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Das '''Kol Nidre''' (aram.: כל נדרי, alle Gelübde) ist ein jüdisches Gebet, das vor dem Abendgebet von [[Jom Kippur]] gesprochen wird.
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Das '''Kol Nidre''' (aram.: כל נדרי, dt.: ''alle Gelübde'') ist ein jüdisches Gebet, das vor dem Abendgebet von [[Jom Kippur]] gesprochen wird. [[Datei:Kol Nidre im deutsch-französischen Krieg 1870-1871.jpg|thumb|435px|Deutsch-jüdische Soldaten hören im Krieg 1870/71 gegen [[Frankreich]] das Kol Nidre - ''Bildpostkarte Kol Nidre vor [[Metz]] 1870'']] [[Datei:Kol Nidre nach Abraham Beer (1765).jpg|thumb|355px|Anfang des ''Kol Nidre'' in der Version von [[Aaron Beer]] aus dem Jahr 1765,(transkribiert von [[Abraham Zevi Idelsohn]] ([https://www.youtube.com/watch?v=UQf5E4f5eGE Einspielung des ''Kol Nidre'' nach Beers Fassung aus dem Jahr 1765 auf Youtube])]]
== Religiöser Inhalt ==
* Zu den rein textlichen und religiösen Aspekten des ''Kol Nidre'' [https://de.wikipedia.org/wiki/Kol_Nidre '''siehe den Wikipediaartikel Kol Nidre'''].
== Musikalische Aspekte ==
=== Vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert ===
* Die ältesten Vertonungen des ''Kol Nidre'' lassen sich nicht genau datieren, reichen aber sicher bis in das frühe [[Mittelalter]] zurück und haben vermutlich auffallende Ähnlichkeiten mit der frühchristlichen Gregorianik.
* Ein historischer Text belegt, dass bereits [[Yehudai ben Nahman]] (von 757 bis ca. 761 n. Chr. Leiter der jüdischen Akademie in [[Sura]]) das Singen eines Widerrufs aller persönlichen Gelübde, ohne dies allerdings explizit als ''Kol Nidre'' zu bezeichnen, durch einen ''Chasan'' einführte. <ref>Eric Werner: ''The Interdependence of Liturgy and Music in Synagogue and Church during the first Millenium'', Columbia University Press, New York, 1959, S. 309</ref> [[Natronai bar Hillail]] (Gaon von Sura von 853 bis 858) benannte dies Gebet dann explizit als Kol Nidre, und ließ es an Rosh Hashanah oder Yom Kippur vortragen. <ref>Dan Ben-Amos und Dov Noy: ''Folktales of the Jews, Volume 2 - Tales from Eastern Europe'', The Jewish Publication Society, 2007, S. 178</ref> [[Datei:Kol Nidre nach Louis Lewandowski.jpg|thumb|355px|Anfang des ''Kol Nidre'' in einer um 1865 entstandenen Version für Klavier bzw. Klavier und Violine von [[Louis Lewandowski]] <ref>Anm: Die Fassung des ''Kol Nidre'' in Lewandowski ''Kol Rinnah u-T'fillah'' aus dem Jahr 1871 (Titel Nr. 107 auf Seite 79 und 80 in der 2. Auflage von 1882) ist einstimmig und steht im Gegensatz zu dieser Klavierfassung in a-Moll in f-Moll.</ref>]] [[Datei:The Jazz Singer.jpg|thumb|360px|Der Schauspieler [[Warner Oland]] "singt" im Film ''The Jazz Singer'' aus dem Jahr 1927 als ''Kantor Rabinowitz'' das ''Kol Nidre''. Die Tonspur wurde in Wirklichkeit allerdings von [[Yoselle Rosenblatt]] gesungen]]
* Das ''Kol Nidre'' erscheint in Deutschland erstmalig zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert. Es existierten verschiedene Melodieversionen, die von jedem Kantor zusätzlich unter Verwendung reichhaltiger Melismatik individuell abgewandelt wurden. Im 11. Jahrhundert wurde das ''Kol Nidre'' bei der Rezitation drei mal, zu Beginn leise und in tiefer Tonlage und bei jeder Wiederholung mit ansteigender Lautsärke, vorgetragen. Von [[Jakob ben Moses haLevi Molin]] wird berichtet, dass er das ''Kol Nidre'' stundenlang bis in die Nacht zu vielen verschiedenen Melodien d.h. improvisierend sang. Rabbi [[Mordecai ben Avraham Yoffe]] (c. 1530-1612) aus [[Prag]] erwähnte als erster, dass es eine traditionelle Melodie gäbe, welche die Kantoren seiner Zeit verwandten. <ref>Abraham Zevi Idelsohn: ''[[Jewish Music - Its Historical Development (Sachbuch von Abraham Zevi Idelsohn)|Jewish Music - Its Historical Development]]'', Henry Holt and Company, New York, 1929, S. 159 und 160</ref>
* Im 16. Jahrhundert war die Melodie des ''Kol Nidre'' im [[Aschkenasim|aschkhenasischen]] Bereich dann Allgemeingut und so eng an den Text gebunden, dass eine Änderung kaum noch möglich war. <ref>Mark Kligman: ''The Music of Kol Nidre''; in Lawrence A. Hoffman: ''All These Vows - Kol Nidre'', Jewish Lights Publishing, 2011, S. 68</ref>
==== Melodien im sephardischen Raum ====
* Während die Melodien der ashkenasischen Juden relativ einheitlich sind, existieren im [[Sephardim|sepharidischen]] Judentum andere Melodien mit größeren Unterschiede zwischen den verschiedenen Melodien. Die Versionen im sephardischen Raum reichen dabei von recht einfachen Melodien im [[Irak]], über eher geflüsterte Gesänge ohne eine eigentliche Melodie z.B. in der [[Provence]] zu ausgefeilten Melodien im [[Spanien|spanisch]]-[[Portugal|portugiesischen]] Gebiet. <ref>[http://rjmag.org/PrintItem/index.cfm?id=1274&type=Articles ''Sounds of Kol Nidre - A conversation with Marsha Bryan Edelman'']</ref>
=== 18. und 19. Jahrhundert ===
* Die älteste schriftlich fixierte Version des ''Kol Nidre'' stammt von Kantor [[Aaron Beer]], der im Jahr 1765 eine Melodie für das Kol Nidre notierte, und den Ursprung seiner Version auf 1720 datierte. Beers Version ist der heutigen Version sehr ähnlich, wirkt allerdings noch etwas verzierter und weist auch einige rhythmische Unterschiede auf.
* Die Melodie des ''Kol Nidre'' berührte mit ihrer Emotionalität anscheinend auch nichtjüdische Menschen. So erzählte der österreichische Schriftsteller [[Nikolas Lenau]] 1834/1844 einem Freund in folgenden Worten, wie bewegt er von einer Aufführung des ''Kol Nidre'' in einer [[Synagoge]] gewesen sei:
:''"Aber näher als diese Zwillingshymnen in Wehr und Waffen'' <ref>Anm.: Lenau meint mit den ''"Hymnen in Wehr und Waffen"'' die Marseilleise und den Rákóczi-Marsch.</ref> ''steht meinem Herzen ein drittes Lied, über und über in Trauer gehüllt, ein langaustönender Nachtgesang bußfertiger, zerknirschter, reuestammelnder Menschenkinder. Kol Nidre heißt dies Schmerzensgebet, ich hab es vor Jahren in der Heimath gehört. Der Voraband des Versöhnungstages war gekommen. (...) Da begann der Vorbeter sein tiefernstes, herzzerwühlendes Entsündigungslied, reich an Schrecken und Gnade. Ich rang mit einer seltenen Rührung, schluchzte krampfhaft, langgekochte Thränen schossen mir aus den Augen, ich stürzte wund aber geläutert in die Nacht hinaus."'' <ref>Aus ''Der Israelit - Ein Zentral-Organ für das orthodoxe Judenthum'', Heft 40, 5. Jahrgang, Nr. 4, 5. Oktober 1864, S. 538 und 539</ref>
* Ab dem 19. Jahrhundert dominierten dann in den meisten Gemeinden die Versionen jüdischer Musiker wie [[Salomon Sulzer]] und besonders [[Louis Lewandowski]] mit seiner Sammlung [[Kol Rinnah U´T'fillah (Musiksammlung von Louis Lewandowski)|''Kol Rinnah U´T'fillah'']] aus dem Jahr 1871. <ref>Anm.: In der 2. Auflage des ''Kol Rinnah U´T'fillah'' von 1882 der Titel Nr. 107 auf Seite 79 und 80</ref> Das Kol Nidre findet sich in Sammlungen vieler Kantoren, wie z.B. [[Abraham Baer]], <ref>Abraham Baer: ''Ba'al Tefillah oder Der practische Vorbeter'', Verlag Kauffmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M., 1894, Nr. 1301, 1302a, 1302b auf Seite 294 ff.</ref> [[Hirsch Weintraub]], <ref>Hirsch Weintraub: ''Schire beth Adonai oder Tempelgesänge für den Gottesdienst der Israeliten'', Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1859</ref> [[Federico Consolo]], <ref>Federigo Consolo: ''Libro dei canti d'Israele - Antichi canti liturgici del rito degli Ebrei Spagnoli'', Florenz, 1891, Nr. 346 auf Seite 155</ref> Emil Breslaur, <ref>Emil Breslaur: ''Sind originale Synagogen- und Volks-Melodien bei den Juden geschichtlich nachweisbar?'', Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1898, S. 31 ff.</ref> oder [[Moritz Deutsch]]. Außerdem existieren viele Bearbeitungen für verschiedenste Streicherbesetzungen, Klavier und Orgel. <ref>[https://www.bibliothek.uni-augsburg.de/dda/dda_downloads/Gruensteudel_Guenther_Musik_fuer_die_Synagoge_2008.pdf Günther Grünsteudel: ''Musik für die Synagoge - Die Sammlung Marcel Lorand der Universitätsbibliothek Augsburg'', Universitätsbibliothek Augsburg, 2008]</ref> So verfasste [[Hirsch Weintraub]] z.B. die Fassung ''Kol Nidre - Andante für Piano mit Begleitung der Violine ad libitum''. Es wurde auch üblich zur Melodie des ''Kol Nidre'' andere Texte zu singen. So schreibt der deutsch-jüdische Pianist und Komponist [[Emil Breslaur]] im Jahr 1898 u.a.:
:''"In neuerer Zeit legte man dem "Kol nidre" einen deutschen Text unter und übertrug, wie bei der "Abodah", die Koloraturen der Orgel. In einigen Synagogen, auch im Tempel der Reformgemeinde, singt man das "Kol nidre" nach den Worten des Psalms 130: "Aus der Tiefe rufe ich zu dir"."'' <ref>Emil Breslaur: ''Sind originale Synagogen- und Volks-Melodien bei den Juden geschichtlich nachweisbar?'', Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1898, S. 34</ref>
=== Melodik und Harmonik ===
* Aufgrund seines hohen Alters, seiner von Varianten und Verzierungen abgesehen das gesamte (aschkeanasische) Judentum übergreifenden melodischen Grundgestalt und seiner festen Bindung an genaue liturgische Anlässe wird das ''Kol Nidre'' zur Gattung der [[Mi-Sinai niggunim]] gezählt. <ref>''Encyclopaedia Judaica'', Band XIV / (Mel-Nas), 2. Aufl., Keter Publishing House Ltd., 2007, S. 363 und 364</ref>
* Das ''Kol Nidre'' besteht aus mehreren verschiedenen musikalischen Motiven/Themen, die auf verschiedenen Quellen basieren. <ref>Charles Heller: ''The Traditional Jewish Sorces of Schoenberg`s Kol Nidre Op. 39''; in ''Journal of Synagogue Music'', Vol. XXIV, Nr. 1, Mai 1995, S. 42 und 43</ref> Nach [[Abraham Zevi Idelsohn]] bestehe das ''Kol Nidre'' aus sechzehn verschiedenen Motiven. Für diese Motive vermutet er unterschiedliche historische Enstehungen. So zeigten die Motive 2, 7 und 11 Einflüsse der [[Ars Nova]] der 16. und 17. Jahrhunderts. Die Motive 1, 3, 5, 12, 13 und 14 hätten ihre Wurzeln in den biblischen Modi, d.h. es sind Imitationen ähnlicher musikalischer Figuren der biblischen Rezitationspraxis. Die Motive 1 und 2 basierten auf der Trope ([[Teamim]]) ''Darga'' innerhalb der ''Tewir-Gruppe''. Motiv 5 basiere auf der Trope ''Etnachta'', Motiv 13 auf ''Sof Pasuq'' und Motiv 14 auf der Trope ''Rewia''. Die einzelnen Motive kommen in verschiedenen Versionen des ''Kol Nidre'' in verschiedenen Anordnungen vor. So beginnt nach Idelsohn Aaron Beers Version aus dem Jahr 1756 z.B. mit der Motivreihenfolge 1, 2, 3, 4, 5. Louis Lewandowskis Version aus seiner Sammlung ''[[Kol Rinnah U´T'fillah (Musiksammlung von Louis Lewandowski)|Kol Rinnah]]'' (Berlin 1871, Nr. 10) habe den Motivanfang 1, 1, 3, 4, 5. Eine osteuropäische Version des ''Kol Nidre'' (veröffentlicht von Aaron Beer in seinem ''Baal Tfillah'' aus dem Jahr 1877) verwende die Motivreihenfolge 1, 2, 3, 3, 3. Nicht alle Versionen verwenden alle sechzehn Motive. So kommen z.B. in der letztgenannten Version nur sieben der sechzehn Motive vor. <ref>Abraham Zevi Idelsohn: ''The Kol Nidre Tune''; in Eric Werner (Hrsg.): ''Contributions to a Historical Study of Jewish Music'', KTAV Publishing House, 1976, S. 155 und 156</ref>
* Auffallend ist beim ''Kol Nidre'' der tetrachordale Charakter, der auch für christliche Musik des frühen Mittelalters typisch ist. Das Anfangsmotiv des ''Kol Nidre'' entspricht dabei dem, was man in der Gregorianik als ''[[Pneuma]]'' (''πνεῦμα'') bezeichnet hat. <ref>[http://www.jewishencyclopedia.com/articles/9443-kol-nidre Joseph Jacobs, Max Schloessinger, Cyrus Adler und Francis L. Cohen: ''KOL NIDRE (= "all vows")''; in der ''Jewish Encyclopedia'' von 1906]</ref> Anhand eines Vergleichs der Anfänge der Versionen von Aaron Beer und Louis Lewandowski erkennt man leicht wesentliche gemeinsame musikalische Merkmale der Melodie: Ein [[Quarte|Quart]]abstieg (hier vom ''a'' zum ''e'') unter [[Datei:Kol Nidre-sephardische Version.jpg|thumb|425px|Sephardische Version des ''Kol Nidre'' nach Abraham Zevi Idelsohn <ref>Abraham Zevi Idelsohn: ''Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz'', Band IV / ''Gesänge der orientalischen Sefardim'', Verlag Harz, Berlin, 1923, Seite 210</ref>]]Verwendung des [[Halbton]]schrittes (hier ''a - gis''), und ein anschließender Aufstieg zur [[Sexte]] (hier ''e - a'') und von dort weiter zur [[Oktave]]. Funktionstheoretisch werden die Moll[[tonika]] (hier ''a-Moll'') und [[Dominante]] (hier ''E-Dur'' bzw. ''E7'') verwandt. Nach einigen Takten mit kürzeren Notenwerten wird ab ''Takt 6'' bzw. ''13'' mit den zentralen Tönen (hier ''a - d - f'') in aufsteigender Form die [[Subdominante]] (hier ''d-Moll'') verwandt. Es bestehen aber auch Unterschiede: So modulieren die älteren Versionen im weiteren Verlauf zu 6. Stufe in [[Dur]], der Subdominantparalele (hier ''F-Dur''), während neuere Versionen zum Parallelklang in Dur (hier ''C-Dur'') wechseln.
* Die muskalische Gestaltung des ''Kol Nidre'' stellt nach [[Eric Werner (Musikwissenschaftler)|Eric Werner]] im Rahmen der Vertonungen religiöser jüdischer Texte eine Ausnahme dar, da sonst meist nur Bittgebete (''Selichot'') und Lobgebete im reich ornamentierten Stil gehalten sind. Texte mit eher narrativem bzw. didaktischem Charakter werden dagegen eher unverziert vorgetragen. Das ''Kol Nidre'' macht hier eine Ausnahme, und wird in Mittel- und Osteuropa stark ornamentiert gesungen. <ref>Eric Werner im Original: ''"In the Synagogue we find the ornate style chiefly in supplicatory, occasionally in laudatory prayers, but rarely in didactic or narrative passages. Yet there is one famous exception, the Kol Nidre. This legalistic formula, chanted on the eve of the Day of Atonement, is rendered in a very ornate style, at least in Central and Eastern Europe."''; in Eric Wener: ''[[Sacred Bridge-These|The Sacred Bridge - Liturgical Parallels in Synagogue and Early Church]]'', Schocken Books, New York, 1970, S. 171 und 172 / Anm.: Die Originalausgabe des Buches erschien im Jahr 1959 bei Columbia University Press</ref>
=== 20. Jahrhundert ===
* In Russland und Deutschland wurden 1899 die frühesten Audioaufnahmen des ''Kol Nidre'' gemacht. <ref>[https://rsa.fau.edu/mm/assets/albums/37/372d4cf8ef9ee21902b9253696718621.pdf ''Mysteries of the Sabbath - Classic Cantorial Recordings 1907-47'', S. 6]</ref> Im Zuge des sogenannten ''"Golden Age of Hazzanut"'' zwischen den Weltkriegen in den [[USA]] wurde das ''Kol Nidre'' sehr populär, und viele Kantoren führten es auf Tourneen in Synagogen und auch Konzerthallen auf. Es wurde auch viel auf Schallplatte eingespielt. <ref>Mark Kligman: ''The Music of Kol Nidre; in Lawrence A. Hoffman: All These Vows - Kol Nidre'', Jewish Lights Publishing, 2011, S. 69 ff.</ref> Einer der ersten, der es in den USA einspielte, war der Kantor [[Gershon Sirota]] <ref>[http://www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/music/45038/holy-remake Ari Y. Kelman: ''Sacred Remake - We may talk of its eternal qualities, but the music of Kol Nidre is forever being made anew'']</ref> Berühmt wurde die Einspielung von [[Yossele Rosenblatt]]. Das ''Kol Nidre'' ist auch in dem Spielfilm ''The Jazz Singer'' aus dem Jahr 1927 zu hören. <ref>[https://www.youtube.com/watch?v=mTufuWn3jv8 Das Kol Nidre im Spielfilm ''The Jazz Singer'' aus dem Jahr 1927]</ref> In der Neufassung des Films aus dem Jahr 1980 singt [[Neil Diamond]] den Titel. <ref>[https://www.youtube.com/watch?v=-IEDLZayfdU Das Kol Nidre im Spielfilm ''The Jazz Singer'' aus dem Jahr 1980]</ref> Andere bekannte Kantoren welche das Stück einspielten waren u.a. [[Zawel Kwartin]], [[Moishe Oysher]], [[Moshe Ganchoff]], [[Louis Waldman|Leibele Waldman]] oder [[Moshe Koussevitzky]]. Auch nichtjüdische Künstler wie z.B. [[Perry Como]] oder [[Johnny Mathis]] spielten das Stück ein.
=== Bearbeitungen in der Kunstmusik ===
* Das ''Kol Nidre'' hat etliche jüdische und nichtjüdische Komponisten zu Vertonungen angeregt. Am populärsten wurde die Vertonung [[Kol Nidrei - Adagio nach hebräischen Melodien für Violoncello und Orchester]] des deutschen Komponisten [[Max Bruch]]. In Bruchs Werk entstammt nur das erste Thema der traditionellen aschkhenasischen Melodie des ''Kol Nidre''. [[Datei:Kol-Nidrei-Bruch-3.jpg|thumb|600px|Solstimme des Violoncello in Max Bruchs Werk mit dem Kol-Nidre-Thema]] Abraham Zevi Idelsohn sah das Stück, obwohl er es als ein exzellentes und virtuoses Werk der deutschen und europäischen Musiktradition ausdrücklich lobte, nicht als Musik welche die religiösen und emotionalen Gefühle und das soziale Millieu, aus dem es entstanden ist, angemessen wiederspiegeln könne. <ref>Abraham Zebi Idelsohn: ''Jewish Music - Its Historical Development'', Henry Holt and Company, New York, 1929, S. 466</ref>
* Ähnlich in seinem in der Spätromantik verhafteten Tonfall sind die 1927 von [[Emil Nikolaus von Rezniçek]] komponierten ''Symphonischen Variationen über Kol Nidrey''. <ref>[https://repertoire-explorer.musikmph.de/wp-content/uploads/vorworte_prefaces/402.pdf ''www.repertoire-explorer.musikmph.de'']</ref>
* [[Arnold Schönberg]] komponierte im Jahr 1938 auf Anregung des Rabbiners ''Jakob Sonderling'' aus [[Los Angeles]] das Werk ''Kol nidre für Sprecher (Rabbi), gemischten Chor und Orchester (g-Moll) op. 39''. <ref>[http://schoenberg.at/index.php/de/joomla-license-sp-1943310035/kol-nidre-op-39-1938 Arnold Schönberg Center]</ref> Es ist das erste Werk tonale Werk Schönbergs nach vielen atonalen Kompositionen. Er verwendet darin einige Motive des ursprünglichen ''Kol Nidre''. Auf Anregung Schönbergs, der die traditionelle Textauffassung als unmoralisch und veraltet empfand, <ref>[http://www.schott-musik.de/news/archive/show,7624.html Werk der Woche - Arnold Schönberg: Kol Nidre]</ref> verfasste ''Sonderling'' einen neuen Text in einer Mischung aus [[Englisch]] und [[Hebräisch]].<ref>Charlotte M. Cross und Russell A. Berman: ''Political and Religious Ideas in the Works of Arnold Schoenberg'', Garland Publishing, 2000, S. 241</ref> Obwohl das Werk für die Synagoge gedacht war, konnte es sich wegen seiner modernen Tonsprache und dem geänderten Text im Gottesdienst niemals durchsetzen. <ref>Kenneth H. Marcus: ''Schoenberg and Hollywood Modernism'', Cambridge University Press, 2016, S. 167 bis 170</ref>
* [[William Zinn]] komponierte im Jahr 1986 in Erinnerung an die im [[Holocaust]] ermordeten Juden das Stück ''Kol Nidrei Memorial''. Der Komponist selber meinte zu dem an [[Ludwig van Beethoven]]s oer [[Franz Schubert]]s [[Streichquartett]]e erinnernden Stück <ref>[http://www.prestoclassical.co.uk/r/Nimbus/NI6256 Review auf ''www.prestoclassical.co.uk'']</ref> u.a.:
:''"Die Kol Nidre Memorial wurde in Erinnerung an die sechs Millionen unschuldigen Juden komponiert, die während des Holocaust getötet wurden. Ich nahm das heiligste und traurigste Thema der hebräischen Musik, und baute auf diesem die Komposition auf. Das Thema für die Verstorbenen wird fünf mal wiederholt, in verschiedenen Tonlagen, auf verschiedenenen Instrumenten und mittels verschiedener Variationen. Der Rest des Stückes ist ernst aber erhebend, und bringt Hoffnung und Optimismus für die Zukunft."'' <ref>Im Original: ''"The Kol Nidrei Memorial was composed in remembrance of the six million innocent Jews that were slaughtered during the holocaust. I took the most sacred, mournful theme in all Hebraic music, and built a composition upon it. The theme for the deceased is repeated five times, in different ranges, on different instruments and with different variations each time."'' ([http://www.prestoclassical.co.uk/r/Nimbus/NI6256 ''William Zinn: Works for String Quartet / Nimbus: NI6256''])</ref> [[Datei:Screenshot 2023-03-30-12-42-37-87 965bbf4d18d205f782c6b8409c5773a4~2.jpg|thumb|480px|''Kol Nidre'' in der Tradition der [[Bergjuden]]]]
* 1996 entstand das Streichquartett ''Kol Nidre'' des jüdisch-amerikanischen Komponisten [[John Zorn]]. In der Komposition sind allerdings kaum Elemente der traditionellen aschkhenasischen Melodie des ''Kol Nidre'' erkennbar. Es wird eher die Stimmung des Versöhnungstages vermittelt. Das ''[[Milken Archive of Jewish Music]]'' schreibt dazu u.a.:
:''"Es handelt sich weder um ein Darstellung noch ein Arrangement der berühmten Erkennungsmelodie von Jom Kippur. Vielmehr ist es eine kluge, phantasievolle und respektvolle Erforschung kaum erkennbarer Motive der traditionellen aschkhenasischen Melodie. Eine ganz eigene Komposition, die Zorn Fähigkeiten als klassischer Komponist zeigt, und traditionelles Material nur als Ausgangspunkt zur Erinnerung an diese wichtigen Tage im jüdischen Kalender verwendet."'' <ref>Im Original: ''"And it is neither a setting nor an arrangement of that famous Yom Kippur signature melody. Rather, it is a clever, imaginative, and perfectly respectful exploration of barely recognizable snippets (confined for the most part to as few as two pitches continually transposed, extended, and developed) of only three of the constituent motives and phrases of the traditional and exclusive kol nidre melody in the Ashkenazi rite. An entirely original composition that illustrates Zorn’s classical capabilities, it relies on traditional source material only as a departure point, evoking the mood of supreme awe and somber introspection that governs the holiest of days on the Jewish calendar, the Day of Atonement."'' ([http://www.milkenarchive.org/works/view/494 ''Milken Archive of Jewish Music''])</ref>
* Der französische Komponist [[Serge Kaufmann]] vertonte das ''Kol Nidre'' für Chor, [[Klarinette]], Streichquintett und Klavier. Das Werk beginnt mit einer dramatischen instrumentalen Einleitung, bei der die Streicher zu tiefen Basstönen des Klaviers einen durchgehenden, mechanisch wirkenden Rhythmus bringen. Danach wird der Text zu umrankenden Klarinettenfiguren rezitiert. Danach setzt ein einfach gehaltener vierstimmiger Chorsatz ein. Die instrumentale Begleitung ordnet sich dem Chor unter und lediglich Cello und Klarinette treten solistisch hervor.
* 2002 schrieb der französische Komponist [[Nicolas Bacri]] eine Violinsonate mit dem Untertitel ''Kol Nidrei''. <ref>[http://nicolasbacri.net/ ''www.nicolasbacri.net'']</ref>
* Der siebte Titel von [[David Ezra Okonsar]]s Klavierwerk ''Rhapsodies Hébraïques'' aus dem Jahr 2014 heißt ''Kal Nidrei''. <ref>[http://www.okonsar.com/008-Compositionpage_RhapsodiesHebraiques.html#/0 ''Rhapsodies Hébraïques - Free form compositions based on popular Jewish melodies for the piano solo'' auf ''www.okonsar.com'']</ref> Die traditionelle aschkhenasische Melodie des Kol Nidre ist hier deutlich erkennbar, wird zu Anfang in langsamem Tempo vorgestellt und später virtuos, im Stil [[Franz Liszt]]s weitergeführt.
* Einen guten Überblick über traditionelle Melodien sowie kunstmusikalische Bearbeitungen des ''Kol Nidre'' bietet die neunte Veröffentlichung der von der ''Fondation du judaïsme français'' herausgegebenen Tonträgersammlung ''[[Patrimoines musicaux des Juifs de France]]''. Die [[CD]] mit dem Titel ''Kol Nidré - Huit visions'' wurde am 18. November 2009 während eines Konzertes in der [[Paris]]er ''Synagoge der Union Libérale Israélite de France'' in der ''Rue Copernic'' aufgenommen. Neben einer traditionellen aschkenasischen Version des ''Kol Nidre'' sind u.a. musikalische Bearbeitungen von [[Max Bruch]], [[Nicolas Bacri]], [[Daniel Itai]], [[Graciane Finzi]], [[Serge Kaufmann]], [[Jean-François Zygel]] und [[John Zorn]] enthalten. <ref>[https://www.cfmj.fr/fr/actualites/publications/cd/kol-nidre-huit-visions.html ''www.cfmj.fr'']</ref>
== Literatur ==
* Abraham Zevi Idelsohn: ''The Kol Nidre Tune'' (Reprint aus dem Jahr 1931); in ''Journal of Synagogue Music'', Vol. III, Nr. 1, 1970, Seite 33 bis 40
== Weblinks ==
* [http://rjmag.org/PrintItem/index.cfm?id=1274&type=Articles ''Sounds of Kol Nidre - A conversation with Marsha Bryan Edelman'']
* [http://www.jewishencyclopedia.com/articles/9443-kol-nidre Joseph Jacobs, Max Schloessinger, Cyrus Adler und Francis L. Cohen: ''KOL NIDRE (= "all vows")''; in der ''Jewish Encyclopedia'' von 1906]
* [http://www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/music/45038/holy-remake Ari Y. Kelman: ''Sacred Remake - We may talk of its eternal qualities, but the music of Kol Nidre is forever being made anew'']
* [https://d2kbrjgcbfmyqt.cloudfront.net/the-music-of-the-yamim-noraim.pdf Sherwood Goffin: ''The Music of the Yamim Noraim'', Seite 38 bis 41]
* [http://www.milkenarchive.org/works/view/494 Artikel über John Zorns Streichquartett ''Kol Nidre'']
== Videos ==
* [https://www.youtube.com/watch?v=k34gVoR3LYg Drei Versionen des Kol Nidre von Kantor Gershon Sirota]
* [https://www.youtube.com/watch?v=HAKpOUBPyoM Kantor Yoselle Rosenblatt singt das Kol Nidre]
* [https://www.youtube.com/watch?v=rIrAYnAmNC4 Kantor Moshe Oysher singt das Kol Nidre]
* [https://www.youtube.com/watch?v=Y8mQwgr3ExE Kantor Ari Schwartz Oysher singt das Kol Nidre]
* [https://www.youtube.com/watch?v=h5QvdRa-Emw Kantor Zawel Kwartin singt das Kol Nidre]
* [http://www.youtube.com/watch?v=0SjVRAIDbz4&feature=related Version des Kol Nidre aus Marokko]
* [https://www.youtube.com/watch?v=XcIDb7Ltqss Emil Nikolaus von Rezniçeks ''Symphonische Variationen über Kol Nidrey'']
* [https://www.youtube.com/watch?v=9TrUOLJZl5g Arnold Schönbergs Kol Nidre, op. 39]
* [https://www.youtube.com/watch?v=x5DbKzbLzUU John Zorns Streichquartett Kol Nidre]
* [https://www.youtube.com/watch?v=7R_rJOf0CUw David Ezra Okonsars ''Kal Nidre'' aus seinen ''Rhapsodies Hébraiques'']
* [http://darkmp3.ru/album-william-zinn-wihan-quartet-10878168.html William Zinns Komposition ''Kol Nidrei Memorial'']
* [https://www.youtube.com/watch?v=f7zXhn6ljUY&index=1&list=PL4n3o5RGOhMXJa7nMWTMr8qxi27J0MZqX Vertonung des Kol Nidre durch Serge Kaufmann]
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Das Kol Nidre (aram.: כל נדרי, dt.: alle Gelübde) ist ein jüdisches Gebet, das vor dem Abendgebet von Jom Kippur gesprochen wird.
Die ältesten Vertonungen des Kol Nidre lassen sich nicht genau datieren, reichen aber sicher bis in das frühe Mittelalter zurück und haben vermutlich auffallende Ähnlichkeiten mit der frühchristlichen Gregorianik.
Ein historischer Text belegt, dass bereits Yehudai ben Nahman (von 757 bis ca. 761 n. Chr. Leiter der jüdischen Akademie in Sura) das Singen eines Widerrufs aller persönlichen Gelübde, ohne dies allerdings explizit als Kol Nidre zu bezeichnen, durch einen Chasan einführte. [1]Natronai bar Hillail (Gaon von Sura von 853 bis 858) benannte dies Gebet dann explizit als Kol Nidre, und ließ es an Rosh Hashanah oder Yom Kippur vortragen. [2]Fehler beim Erstellen des Vorschaubildes: Datei fehltAnfang des Kol Nidre in einer um 1865 entstandenen Version für Klavier bzw. Klavier und Violine von Louis Lewandowski[3]Fehler beim Erstellen des Vorschaubildes: Datei fehltDer Schauspieler Warner Oland "singt" im Film The Jazz Singer aus dem Jahr 1927 als Kantor Rabinowitz das Kol Nidre. Die Tonspur wurde in Wirklichkeit allerdings von Yoselle Rosenblatt gesungen
Das Kol Nidre erscheint in Deutschland erstmalig zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert. Es existierten verschiedene Melodieversionen, die von jedem Kantor zusätzlich unter Verwendung reichhaltiger Melismatik individuell abgewandelt wurden. Im 11. Jahrhundert wurde das Kol Nidre bei der Rezitation drei mal, zu Beginn leise und in tiefer Tonlage und bei jeder Wiederholung mit ansteigender Lautsärke, vorgetragen. Von Jakob ben Moses haLevi Molin wird berichtet, dass er das Kol Nidre stundenlang bis in die Nacht zu vielen verschiedenen Melodien d.h. improvisierend sang. Rabbi Mordecai ben Avraham Yoffe (c. 1530-1612) aus Prag erwähnte als erster, dass es eine traditionelle Melodie gäbe, welche die Kantoren seiner Zeit verwandten. [4]
Im 16. Jahrhundert war die Melodie des Kol Nidre im aschkhenasischen Bereich dann Allgemeingut und so eng an den Text gebunden, dass eine Änderung kaum noch möglich war. [5]
Melodien im sephardischen Raum
Während die Melodien der ashkenasischen Juden relativ einheitlich sind, existieren im sepharidischen Judentum andere Melodien mit größeren Unterschiede zwischen den verschiedenen Melodien. Die Versionen im sephardischen Raum reichen dabei von recht einfachen Melodien im Irak, über eher geflüsterte Gesänge ohne eine eigentliche Melodie z.B. in der Provence zu ausgefeilten Melodien im spanisch-portugiesischen Gebiet. [6]
18. und 19. Jahrhundert
Die älteste schriftlich fixierte Version des Kol Nidre stammt von Kantor Aaron Beer, der im Jahr 1765 eine Melodie für das Kol Nidre notierte, und den Ursprung seiner Version auf 1720 datierte. Beers Version ist der heutigen Version sehr ähnlich, wirkt allerdings noch etwas verzierter und weist auch einige rhythmische Unterschiede auf.
Die Melodie des Kol Nidre berührte mit ihrer Emotionalität anscheinend auch nichtjüdische Menschen. So erzählte der österreichische Schriftsteller Nikolas Lenau 1834/1844 einem Freund in folgenden Worten, wie bewegt er von einer Aufführung des Kol Nidre in einer Synagoge gewesen sei:
"Aber näher als diese Zwillingshymnen in Wehr und Waffen[7]steht meinem Herzen ein drittes Lied, über und über in Trauer gehüllt, ein langaustönender Nachtgesang bußfertiger, zerknirschter, reuestammelnder Menschenkinder. Kol Nidre heißt dies Schmerzensgebet, ich hab es vor Jahren in der Heimath gehört. Der Voraband des Versöhnungstages war gekommen. (...) Da begann der Vorbeter sein tiefernstes, herzzerwühlendes Entsündigungslied, reich an Schrecken und Gnade. Ich rang mit einer seltenen Rührung, schluchzte krampfhaft, langgekochte Thränen schossen mir aus den Augen, ich stürzte wund aber geläutert in die Nacht hinaus."[8]
Ab dem 19. Jahrhundert dominierten dann in den meisten Gemeinden die Versionen jüdischer Musiker wie Salomon Sulzer und besonders Louis Lewandowski mit seiner Sammlung Kol Rinnah U´T'fillah aus dem Jahr 1871. [9] Das Kol Nidre findet sich in Sammlungen vieler Kantoren, wie z.B. Abraham Baer, [10]Hirsch Weintraub, [11]Federico Consolo, [12] Emil Breslaur, [13] oder Moritz Deutsch. Außerdem existieren viele Bearbeitungen für verschiedenste Streicherbesetzungen, Klavier und Orgel. [14] So verfasste Hirsch Weintraub z.B. die Fassung Kol Nidre - Andante für Piano mit Begleitung der Violine ad libitum. Es wurde auch üblich zur Melodie des Kol Nidre andere Texte zu singen. So schreibt der deutsch-jüdische Pianist und Komponist Emil Breslaur im Jahr 1898 u.a.:
"In neuerer Zeit legte man dem "Kol nidre" einen deutschen Text unter und übertrug, wie bei der "Abodah", die Koloraturen der Orgel. In einigen Synagogen, auch im Tempel der Reformgemeinde, singt man das "Kol nidre" nach den Worten des Psalms 130: "Aus der Tiefe rufe ich zu dir"."[15]
Melodik und Harmonik
Aufgrund seines hohen Alters, seiner von Varianten und Verzierungen abgesehen das gesamte (aschkeanasische) Judentum übergreifenden melodischen Grundgestalt und seiner festen Bindung an genaue liturgische Anlässe wird das Kol Nidre zur Gattung der Mi-Sinai niggunim gezählt. [16]
Das Kol Nidre besteht aus mehreren verschiedenen musikalischen Motiven/Themen, die auf verschiedenen Quellen basieren. [17] Nach Abraham Zevi Idelsohn bestehe das Kol Nidre aus sechzehn verschiedenen Motiven. Für diese Motive vermutet er unterschiedliche historische Enstehungen. So zeigten die Motive 2, 7 und 11 Einflüsse der Ars Nova der 16. und 17. Jahrhunderts. Die Motive 1, 3, 5, 12, 13 und 14 hätten ihre Wurzeln in den biblischen Modi, d.h. es sind Imitationen ähnlicher musikalischer Figuren der biblischen Rezitationspraxis. Die Motive 1 und 2 basierten auf der Trope (Teamim) Darga innerhalb der Tewir-Gruppe. Motiv 5 basiere auf der Trope Etnachta, Motiv 13 auf Sof Pasuq und Motiv 14 auf der Trope Rewia. Die einzelnen Motive kommen in verschiedenen Versionen des Kol Nidre in verschiedenen Anordnungen vor. So beginnt nach Idelsohn Aaron Beers Version aus dem Jahr 1756 z.B. mit der Motivreihenfolge 1, 2, 3, 4, 5. Louis Lewandowskis Version aus seiner Sammlung Kol Rinnah (Berlin 1871, Nr. 10) habe den Motivanfang 1, 1, 3, 4, 5. Eine osteuropäische Version des Kol Nidre (veröffentlicht von Aaron Beer in seinem Baal Tfillah aus dem Jahr 1877) verwende die Motivreihenfolge 1, 2, 3, 3, 3. Nicht alle Versionen verwenden alle sechzehn Motive. So kommen z.B. in der letztgenannten Version nur sieben der sechzehn Motive vor. [18]
Auffallend ist beim Kol Nidre der tetrachordale Charakter, der auch für christliche Musik des frühen Mittelalters typisch ist. Das Anfangsmotiv des Kol Nidre entspricht dabei dem, was man in der Gregorianik als Pneuma (πνεῦμα) bezeichnet hat. [19] Anhand eines Vergleichs der Anfänge der Versionen von Aaron Beer und Louis Lewandowski erkennt man leicht wesentliche gemeinsame musikalische Merkmale der Melodie: Ein Quartabstieg (hier vom a zum e) unter Fehler beim Erstellen des Vorschaubildes: Datei fehltSephardische Version des Kol Nidre nach Abraham Zevi Idelsohn [20]Verwendung des Halbtonschrittes (hier a - gis), und ein anschließender Aufstieg zur Sexte (hier e - a) und von dort weiter zur Oktave. Funktionstheoretisch werden die Molltonika (hier a-Moll) und Dominante (hier E-Dur bzw. E7) verwandt. Nach einigen Takten mit kürzeren Notenwerten wird ab Takt 6 bzw. 13 mit den zentralen Tönen (hier a - d - f) in aufsteigender Form die Subdominante (hier d-Moll) verwandt. Es bestehen aber auch Unterschiede: So modulieren die älteren Versionen im weiteren Verlauf zu 6. Stufe in Dur, der Subdominantparalele (hier F-Dur), während neuere Versionen zum Parallelklang in Dur (hier C-Dur) wechseln.
Die muskalische Gestaltung des Kol Nidre stellt nach Eric Werner im Rahmen der Vertonungen religiöser jüdischer Texte eine Ausnahme dar, da sonst meist nur Bittgebete (Selichot) und Lobgebete im reich ornamentierten Stil gehalten sind. Texte mit eher narrativem bzw. didaktischem Charakter werden dagegen eher unverziert vorgetragen. Das Kol Nidre macht hier eine Ausnahme, und wird in Mittel- und Osteuropa stark ornamentiert gesungen. [21]
20. Jahrhundert
In Russland und Deutschland wurden 1899 die frühesten Audioaufnahmen des Kol Nidre gemacht. [22] Im Zuge des sogenannten "Golden Age of Hazzanut" zwischen den Weltkriegen in den USA wurde das Kol Nidre sehr populär, und viele Kantoren führten es auf Tourneen in Synagogen und auch Konzerthallen auf. Es wurde auch viel auf Schallplatte eingespielt. [23] Einer der ersten, der es in den USA einspielte, war der Kantor Gershon Sirota[24] Berühmt wurde die Einspielung von Yossele Rosenblatt. Das Kol Nidre ist auch in dem Spielfilm The Jazz Singer aus dem Jahr 1927 zu hören. [25] In der Neufassung des Films aus dem Jahr 1980 singt Neil Diamond den Titel. [26] Andere bekannte Kantoren welche das Stück einspielten waren u.a. Zawel Kwartin, Moishe Oysher, Moshe Ganchoff, Leibele Waldman oder Moshe Koussevitzky. Auch nichtjüdische Künstler wie z.B. Perry Como oder Johnny Mathis spielten das Stück ein.
Bearbeitungen in der Kunstmusik
Das Kol Nidre hat etliche jüdische und nichtjüdische Komponisten zu Vertonungen angeregt. Am populärsten wurde die Vertonung Kol Nidrei - Adagio nach hebräischen Melodien für Violoncello und Orchester des deutschen Komponisten Max Bruch. In Bruchs Werk entstammt nur das erste Thema der traditionellen aschkhenasischen Melodie des Kol Nidre. Fehler beim Erstellen des Vorschaubildes: Datei fehltSolstimme des Violoncello in Max Bruchs Werk mit dem Kol-Nidre-Thema Abraham Zevi Idelsohn sah das Stück, obwohl er es als ein exzellentes und virtuoses Werk der deutschen und europäischen Musiktradition ausdrücklich lobte, nicht als Musik welche die religiösen und emotionalen Gefühle und das soziale Millieu, aus dem es entstanden ist, angemessen wiederspiegeln könne. [27]
Ähnlich in seinem in der Spätromantik verhafteten Tonfall sind die 1927 von Emil Nikolaus von Rezniçek komponierten Symphonischen Variationen über Kol Nidrey. [28]
Arnold Schönberg komponierte im Jahr 1938 auf Anregung des Rabbiners Jakob Sonderling aus Los Angeles das Werk Kol nidre für Sprecher (Rabbi), gemischten Chor und Orchester (g-Moll) op. 39. [29] Es ist das erste Werk tonale Werk Schönbergs nach vielen atonalen Kompositionen. Er verwendet darin einige Motive des ursprünglichen Kol Nidre. Auf Anregung Schönbergs, der die traditionelle Textauffassung als unmoralisch und veraltet empfand, [30] verfasste Sonderling einen neuen Text in einer Mischung aus Englisch und Hebräisch.[31] Obwohl das Werk für die Synagoge gedacht war, konnte es sich wegen seiner modernen Tonsprache und dem geänderten Text im Gottesdienst niemals durchsetzen. [32]
"Die Kol Nidre Memorial wurde in Erinnerung an die sechs Millionen unschuldigen Juden komponiert, die während des Holocaust getötet wurden. Ich nahm das heiligste und traurigste Thema der hebräischen Musik, und baute auf diesem die Komposition auf. Das Thema für die Verstorbenen wird fünf mal wiederholt, in verschiedenen Tonlagen, auf verschiedenenen Instrumenten und mittels verschiedener Variationen. Der Rest des Stückes ist ernst aber erhebend, und bringt Hoffnung und Optimismus für die Zukunft."[34]Fehler beim Erstellen des Vorschaubildes: Datei fehltKol Nidre in der Tradition der Bergjuden
1996 entstand das Streichquartett Kol Nidre des jüdisch-amerikanischen Komponisten John Zorn. In der Komposition sind allerdings kaum Elemente der traditionellen aschkhenasischen Melodie des Kol Nidre erkennbar. Es wird eher die Stimmung des Versöhnungstages vermittelt. Das Milken Archive of Jewish Music schreibt dazu u.a.:
"Es handelt sich weder um ein Darstellung noch ein Arrangement der berühmten Erkennungsmelodie von Jom Kippur. Vielmehr ist es eine kluge, phantasievolle und respektvolle Erforschung kaum erkennbarer Motive der traditionellen aschkhenasischen Melodie. Eine ganz eigene Komposition, die Zorn Fähigkeiten als klassischer Komponist zeigt, und traditionelles Material nur als Ausgangspunkt zur Erinnerung an diese wichtigen Tage im jüdischen Kalender verwendet."[35]
Der französische Komponist Serge Kaufmann vertonte das Kol Nidre für Chor, Klarinette, Streichquintett und Klavier. Das Werk beginnt mit einer dramatischen instrumentalen Einleitung, bei der die Streicher zu tiefen Basstönen des Klaviers einen durchgehenden, mechanisch wirkenden Rhythmus bringen. Danach wird der Text zu umrankenden Klarinettenfiguren rezitiert. Danach setzt ein einfach gehaltener vierstimmiger Chorsatz ein. Die instrumentale Begleitung ordnet sich dem Chor unter und lediglich Cello und Klarinette treten solistisch hervor.
2002 schrieb der französische Komponist Nicolas Bacri eine Violinsonate mit dem Untertitel Kol Nidrei. [36]
Der siebte Titel von David Ezra Okonsars Klavierwerk Rhapsodies Hébraïques aus dem Jahr 2014 heißt Kal Nidrei. [37] Die traditionelle aschkhenasische Melodie des Kol Nidre ist hier deutlich erkennbar, wird zu Anfang in langsamem Tempo vorgestellt und später virtuos, im Stil Franz Liszts weitergeführt.
Einen guten Überblick über traditionelle Melodien sowie kunstmusikalische Bearbeitungen des Kol Nidre bietet die neunte Veröffentlichung der von der Fondation du judaïsme français herausgegebenen Tonträgersammlung Patrimoines musicaux des Juifs de France. Die CD mit dem Titel Kol Nidré - Huit visions wurde am 18. November 2009 während eines Konzertes in der PariserSynagoge der Union Libérale Israélite de France in der Rue Copernic aufgenommen. Neben einer traditionellen aschkenasischen Version des Kol Nidre sind u.a. musikalische Bearbeitungen von Max Bruch, Nicolas Bacri, Daniel Itai, Graciane Finzi, Serge Kaufmann, Jean-François Zygel und John Zorn enthalten. [38]
Literatur
Abraham Zevi Idelsohn: The Kol Nidre Tune (Reprint aus dem Jahr 1931); in Journal of Synagogue Music, Vol. III, Nr. 1, 1970, Seite 33 bis 40
↑Eric Werner: The Interdependence of Liturgy and Music in Synagogue and Church during the first Millenium, Columbia University Press, New York, 1959, S. 309
↑Dan Ben-Amos und Dov Noy: Folktales of the Jews, Volume 2 - Tales from Eastern Europe, The Jewish Publication Society, 2007, S. 178
↑Anm: Die Fassung des Kol Nidre in Lewandowski Kol Rinnah u-T'fillah aus dem Jahr 1871 (Titel Nr. 107 auf Seite 79 und 80 in der 2. Auflage von 1882) ist einstimmig und steht im Gegensatz zu dieser Klavierfassung in a-Moll in f-Moll.
↑Anm.: Lenau meint mit den "Hymnen in Wehr und Waffen" die Marseilleise und den Rákóczi-Marsch.
↑Aus Der Israelit - Ein Zentral-Organ für das orthodoxe Judenthum, Heft 40, 5. Jahrgang, Nr. 4, 5. Oktober 1864, S. 538 und 539
↑Anm.: In der 2. Auflage des Kol Rinnah U´T'fillah von 1882 der Titel Nr. 107 auf Seite 79 und 80
↑Abraham Baer: Ba'al Tefillah oder Der practische Vorbeter, Verlag Kauffmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M., 1894, Nr. 1301, 1302a, 1302b auf Seite 294 ff.
↑Hirsch Weintraub: Schire beth Adonai oder Tempelgesänge für den Gottesdienst der Israeliten, Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1859
↑Federigo Consolo: Libro dei canti d'Israele - Antichi canti liturgici del rito degli Ebrei Spagnoli, Florenz, 1891, Nr. 346 auf Seite 155
↑Emil Breslaur: Sind originale Synagogen- und Volks-Melodien bei den Juden geschichtlich nachweisbar?, Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1898, S. 31 ff.
↑Emil Breslaur: Sind originale Synagogen- und Volks-Melodien bei den Juden geschichtlich nachweisbar?, Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1898, S. 34
↑Encyclopaedia Judaica, Band XIV / (Mel-Nas), 2. Aufl., Keter Publishing House Ltd., 2007, S. 363 und 364
↑Charles Heller: The Traditional Jewish Sorces of Schoenberg`s Kol Nidre Op. 39; in Journal of Synagogue Music, Vol. XXIV, Nr. 1, Mai 1995, S. 42 und 43
↑Abraham Zevi Idelsohn: The Kol Nidre Tune; in Eric Werner (Hrsg.): Contributions to a Historical Study of Jewish Music, KTAV Publishing House, 1976, S. 155 und 156
↑Abraham Zevi Idelsohn: Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz, Band IV / Gesänge der orientalischen Sefardim, Verlag Harz, Berlin, 1923, Seite 210
↑Eric Werner im Original: "In the Synagogue we find the ornate style chiefly in supplicatory, occasionally in laudatory prayers, but rarely in didactic or narrative passages. Yet there is one famous exception, the Kol Nidre. This legalistic formula, chanted on the eve of the Day of Atonement, is rendered in a very ornate style, at least in Central and Eastern Europe."; in Eric Wener: The Sacred Bridge - Liturgical Parallels in Synagogue and Early Church, Schocken Books, New York, 1970, S. 171 und 172 / Anm.: Die Originalausgabe des Buches erschien im Jahr 1959 bei Columbia University Press
↑Im Original: "The Kol Nidrei Memorial was composed in remembrance of the six million innocent Jews that were slaughtered during the holocaust. I took the most sacred, mournful theme in all Hebraic music, and built a composition upon it. The theme for the deceased is repeated five times, in different ranges, on different instruments and with different variations each time." (William Zinn: Works for String Quartet / Nimbus: NI6256)
↑Im Original: "And it is neither a setting nor an arrangement of that famous Yom Kippur signature melody. Rather, it is a clever, imaginative, and perfectly respectful exploration of barely recognizable snippets (confined for the most part to as few as two pitches continually transposed, extended, and developed) of only three of the constituent motives and phrases of the traditional and exclusive kol nidre melody in the Ashkenazi rite. An entirely original composition that illustrates Zorn’s classical capabilities, it relies on traditional source material only as a departure point, evoking the mood of supreme awe and somber introspection that governs the holiest of days on the Jewish calendar, the Day of Atonement." (Milken Archive of Jewish Music)