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| '''Heraklit von Ephesos''' (Hērákleitos ho Ephésios, latinisiert {''Heraclitus Ephesius''; * um 520 v. Chr.; † um 460 v. Chr.) war ein [[Vorsokratiker|vorsokratischer]] [[Philosoph]] aus dem [[Ionien|ionischen]] [[Ephesos]]. | | '''Heraklit von Ephesos''' (Hērákleitos ho Ephésios, latinisiert {''Heraclitus Ephesius''; * um 520 v. Chr.; † um 460 v. Chr.) war ein [[Vorsokratiker|vorsokratischer]] [[Philosoph]] aus dem [[Ionien|ionischen]] [[Ephesos]]. |
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| Heraklit beanspruchte eine von allen herkömmlichen Vorstellungsweisen verschiedene Einsicht in die Weltordnung. Daraus ergibt sich seine nachhaltige Kritik der oberflächlichen Realitätswahrnehmung und Lebensart der meisten Menschen. Ein wiederkehrendes Thema seines Philosophierens ist neben dem auf vielfältige Weise interpretierbaren Begriff des [[Logos]], der die vernunftgemäße Weltordnung und ihre Erkenntnis und Erklärung bezeichnet, der natürliche Prozess beständigen [[Werden (Philosophie)|Werdens]] und Wandels. In späterer Zeit wurde dieser Wandel auf die populäre Kurzformel ''[[panta rhei]]'' („Alles fließt“) gebracht. Des Weiteren setzte sich Heraklit mit dem Verhältnis von Gegensätzen auseinander, wie etwa von Tag und Nacht, Wachsein und Schlafen, Eintracht und Zwietracht. Diese Gegensätze sah er in einer spannungsgeladenen Einheit stehend.
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| Überliefert sind von Heraklits Werk nur Zitate aus späteren Texten anderer Autoren. Diese Zitate bestehen oft nur aus einem Satz und enthalten zahlreiche [[Aphorismus|Aphorismen]], [[Paradoxon|Paradoxien]] und [[Wortspiel]]e. Die stilistischen Eigenheiten, die fragmentarische Überlieferung und der Umstand, dass die Echtheit einiger Fragmente strittig ist, erschweren eine präzise Erfassung seiner Philosophie. Seine Thesen waren und sind daher Gegenstand kontroverser Interpretationsversuche. Wegen der nicht leicht zu entschlüsselnden Botschaften verlieh man ihm bereits in der Antike den Beinamen „der Dunkle“ (ho Skoteinós). Seine genauen Lebensumstände sind – wie der Aufbau seines Werkes – ungeklärt, da sich die Forschung lediglich auf Informationen von nicht zeitgenössischen, teils sehr späten Autoren stützen kann, deren Glaubwürdigkeit umstritten und in manchen Fällen offensichtlich gering ist.
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| == Leben und Legendenbildung ==
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| Heraklit wurde um 520 v. Chr.<ref>Zur Datierung von Geburt und Tod Heraklits siehe die ausführlichen Erörterungen von Serge N. Mouraviev: ''Héraclite d'Éphèse. Les vestiges''. Bd. 1: ''La vie, la mort et le livre d'Héraclite'' (= ''Heraclitea'' III.1), Sankt Augustin 2003, S. 110–129.</ref> in der griechischen Kolonie [[Ephesos]] in [[Ionien]] geboren, das bis in das 5. Jahrhundert unter der Herrschaft der Perser stand. Als Sohn eines gewissen Blyson oder Herakon, worüber bereits in der Antike Uneinigkeit herrschte,<ref>Diogenes Laertios 9,1 (= [[Die Fragmente der griechischen Historiker|FGrHist]] 244 F 340a).</ref> stammte Heraklit aus einem [[Aristokratie|aristokratischen]] Geschlecht. Dadurch hatte er Anspruch auf das „amtliche Königtum“,<ref>[[Michael Franz (Philosoph)|Michael Franz]]: ''Heraklit und das Artemision. Die Erfindung eines neutralen Standpunkts in der Politik.'' In: Enrica Fantino, Ulrike Muss, [[Charlotte Schubert]], [[Kurt Sier]] (Hrsg.): ''Heraklit im Kontext'' (= ''Studia Praesocratica.'' Band 8). De Gruyter, Berlin/New York 2017, S. 83–102, hier S. 89.</ref> doch er verzichtete zugunsten seines Bruders darauf,<ref>Diogenes Laertios 9,6: ἐκχωρῆσαι γὰρ τἀδελφῷ τῆς βασιλείας.</ref> was als Zeichen seiner hohen Sinnesart – oder, bei negativer Deutung der Quellenaussage, seines Hochmuts – betrachtet wurde.<ref>Diogenes Laertios 9,6: σημεῖον δ' αὐτοῦ τῆς μεγαλοφροσύνης; in positivem, rühmendem Sinne fassen die meisten Übersetzungen diese Mitteilung auf; abweichend Michael Franz: ''Heraklit und das Artemision. Die Erfindung eines neutralen Standpunkts in der Politik.'' In: Enrica Fantino, Ulrike Muss, [[Charlotte Schubert]], [[Kurt Sier]] (Hrsg.): ''Heraklit im Kontext'' (= ''Studia Praesocratica.'' Band 8). De Gruyter, Berlin/New York 2017, S. 83–102, hier S. 89, der mit „Hochmut“ übersetzt.</ref> Zu seinen Mitbürgern nahm Heraklit auch politisch eine deutlich ablehnende Haltung ein, wie ein Zitat zeigt, welches sich auf die Verbannung eines prominenten Lokalpolitikers bezieht: „Recht täten die Ephesier, wenn sie sich alle Mann für Mann aufhängten und den Unmündigen ihre Stadt hinterließen, sie, die Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt gejagt haben mit den Worten: ‚Von uns soll keiner der Wackerste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei andern.‘“<ref>Diogenes Laertios 9,2.</ref> Trotz seiner Abneigung gegen seine Mitbürger scheint er seine Heimatstadt nie verlassen zu haben.
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| Nur wenige der zu seinem Leben überlieferten Einzelheiten können als gesichert gelten, darunter aber immerhin die Mitteilung, dass er sein Werk ursprünglich im [[Tempel der Artemis in Ephesos|Artemistempel von Ephesos]] hinterlegte.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 12.</ref> Die spärlichen biographischen Angaben sind – beispielsweise bei [[Diogenes Laertios]] – ansonsten untrennbar mit Anekdoten verbunden, deren Wahrheitsgehalt umstritten und in manchen Fällen höchst zweifelhaft ist.<ref>Diogenes Laertios 9,1–17.</ref> Ein Großteil der angeblichen Begebenheiten wurde anscheinend in späterer Zeit aus seinen vielfältig deutbaren Sentenzen hergeleitet und zielte darauf, ihn postum der Lächerlichkeit preiszugeben.<ref>Geoffrey Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield: ''Die vorsokratischen Philosophen'', Stuttgart 2001, S. 199.</ref> In diesem Sinne spiegeln manche Anekdoten verzerrte Aspekte seiner Äußerungen wider: Dem Fragment B 52, welches das Leben einem Knabenspiel gleichsetzt, entspricht eine Episode, wonach Heraklit eine Beteiligung an der Gesetzgebung in Ephesos ablehnte, weil er das Spiel mit Kindern im Artemistempel vorzog.<ref>[[Christof Rapp]]: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 62.</ref> Ebenso ist Heraklits Tod um 460 v. Chr. von der Legende umrankt, dass er aufgrund seiner rein pflanzlichen Nahrung während seines zurückgezogenen Lebens in den Bergen um Ephesos an [[Ödem|Wassersucht]] erkrankt sei. Mit seiner gewohnt rätselhaften Ausdrucksweise habe er sich den Ärzten nicht verständlich machen können. Daraufhin habe er versucht, sich selbst zu kurieren, indem er sich unter einen Misthaufen gelegt habe, um seinen wassersüchtigen Körper auszutrocknen.<ref>Diogenes Laertios 9,3.</ref> Diese Schilderung angeblicher Umstände seines Ablebens dürfte ihren Ursprung in Versatzstücken der Lehre Heraklits haben, wonach es für die Seele den Tod bedeutet, zu Wasser zu werden.<ref>[[Die Fragmente der Vorsokratiker|DK]] 22 B 36; Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 62.</ref>
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| Trotz der lokalen und zeitlichen Nähe zu [[Milet]] und seinen [[Naturphilosophie|Naturphilosophen]] ist eine direkte Bezugnahme Heraklits auf die [[Vorsokratiker#Milesier|Milesier]] weder für [[Thales von Milet]] noch für [[Anaximander]] oder [[Anaximenes]] überliefert. Weder stand er in einem Schülerverhältnis zu einem von ihnen,<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 67 Anm. 180.</ref> noch begründete er selbst eine kontinuierliche Tradition oder eigene Lehrrichtung. Umstritten ist sein Verhältnis zu [[Parmenides]]; die Vermutung, dass er das Werk des Parmenides kannte, ist spekulativ.<ref>Serge Mouraviev: ''Héraclite d'Éphèse''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Bd. 3, Paris 2000, S. 573–617, hier: 584 f. (mit Literaturübersicht zur Frage). Mouraviev weist darauf hin, dass für eine Parmenides-Rezeption bei Heraklit nur spekulative philosophiegeschichtliche Überlegungen sprechen können, wogegen für eine Heraklit-Rezeption bei Parmenides nicht nur philosophiegeschichtliche, sondern auch philologische Argumente vorgebracht worden sind. Die Frage bleibt offen.</ref> Sein Philosophieren, das er als Selbstsuche charakterisierte,<ref>DK 22 B 101: „Ich habe mich selbst erforscht“ ({{lang|grc|ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν}}); Diogenes Laertios 9,5.</ref> steht somit außerhalb aller Einteilungen in Schulen und Richtungen. Philosophiegeschichtlich wurde Heraklit daher kontrovers als materieller [[Monismus|Monist]] oder [[Prozessphilosophie|Prozess-Philosoph]], als wissenschaftlicher [[Kosmologie|Kosmologe]], [[Metaphysik|metaphysischer]] oder hauptsächlich religiöser Denker, [[Empirismus|Empirist]], [[Rationalismus|Rationalist]] oder [[Mystiker]] bezeichnet, seinem Gedankengut revolutionäre oder geringe Bedeutung zugesprochen und sein Werk als Grundlage der [[Logik]] oder als Widerspruch in sich beurteilt.<ref>Daniel W. Graham: ''Heraclitus''. In: [http://plato.stanford.edu/entries/heraclitus/#LifWor Stanford Encyclopedia of Philosophy].</ref>
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| == Werk ==
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| Heraklit verfasste eine Schrift, die er – damaligem Brauch folgend – ohne Titel beließ; erst in späterer Zeit wurde sie als Περὶ φύσεως (''Perì phýseōs'', „Über die Natur“) betitelt. Sie wurde spätestens im Jahr 478 v. Chr. vollendet.<ref>Zur Datierung siehe Serge Mouraviev: ''Héraclite d'Éphèse''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Bd. 3, Paris 2000, S. 573–617, hier: 583, 587.</ref> Das Werk als Ganzes ist verloren, die heute vorliegenden Bruchstücke stammen aus der fragmentarischen Überlieferung bei antiken und byzantinischen Autoren. Die Vermutungen über den Umfang des Originaltextes schwanken zwischen dem Fünffachen und dem Anderthalbfachen des Fragmentbestands.<ref>Eine Übersicht über die Hypothesen bietet Serge Mouraviev: ''Héraclite d'Éphèse''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Bd. 3, Paris 2000, S. 573–617, hier: 598 f.</ref> Werke von griechischen und römischen Autoren wie [[Platon]], [[Aristoteles]], [[Clemens von Alexandria]], [[Hippolyt von Rom]] und [[Diogenes Laertios]] enthalten meist sinngemäße, selten wörtliche Zitate aus der ursprünglichen Schrift Heraklits. Aus diesen indirekten Quellen sammelte [[Hermann Diels]] 137 Fragmente sowie mehrere Äußerungen zu Heraklits Leben. Dieses Material veröffentlichte er 1901 unter dem Titel ''Herakleitos von Ephesos'' sowie ab 1903 als Teil seines Werks ''Die Fragmente der Vorsokratiker''. Nach dieser Ausgabe werden Heraklits Fragmente gewöhnlich zitiert.<ref>Die übliche Zitation umfasst die Kennzeichnung DK als Abkürzung für Diels-Kranz, eine dem Autor zugewiesene Ziffer, die Bezeichnung des Abschnitts und die Nummer des Fragments, z. B. DK 22 B 101.</ref> Allerdings gelten nach heutigem Forschungsstand von den Fragmenten ein bis drei Dutzend als unecht, zweifelhaft oder als lediglich schwache [[Paraphrase (Sprache)|Paraphrasen]] ursprünglicher Zitate.<ref>Einen Überblick über die Ansichten verschiedener Herausgeber zur Authentizität der Fragmente bietet Serge Mouraviev: ''Héraclite d'Éphèse''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Bd. 3, Paris 2000, S. 573–617, hier: 604–607.</ref>
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| Wegen dieser Überlieferungslage kann die ursprüngliche Konzeption des heraklitischen Werkes nicht zuverlässig rekonstruiert werden. Bereits die Frage nach der Gestalt der Schrift wurde und wird kontrovers beurteilt: So nehmen manche [[Philologe]]n an, dass das Werk Heraklits eine geschlossene philosophische Konzeption sowie „einen durchkomponierten Charakter“ aufwies und „von bestimmten Grundgedanken getragen war, die ihm systematischen Zusammenhang verliehen“, auch wenn sich der ursprünglich kohärente Zusammenhang der Fragmente nicht wiederherstellen lässt.<ref>Thomas Hammer: ''Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus'', Würzburg 1991, S. 32.</ref> Vertreter einer gegensätzlichen Forschungsrichtung sehen die Fragmente hingegen als Überreste eines Buches, das als Aneinanderreihung von Sinnsprüchen, sogenannten [[Gnome (Dichtung)|Gnomen]], gestaltet war, „einer vielleicht auch erst im Laufe der Zeit zusammengekommenen Sammlung knapper, pointierter, mit höchster Kunst stilisierter Aussprüche.“<ref>Olof Gigon: ''Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides'', 2. Auflage, Basel 1968, S. 197.</ref> Nach Gigon weisen die einzelnen Fragmente „größte Intensität und Selbstständigkeit“ auf, sodass lediglich das Anfangsfragment einen sachlichen und textlichen Anschluss anderer Sprüche erlauben würde.<ref>Olof Gigon: ''Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides'', 2. Auflage, Basel 1968, S. 200.</ref> [[Geoffrey Kirk]] erwog sogar die Möglichkeit, dass es sich bei den bekannten Fragmenten um eine erst nach Heraklits Tod durch einen Schüler zusammengestellte Sammlung von Aussprüchen handelt; diese Hypothese fand in der Forschung jedoch kaum Anklang.
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| [[Theophrastos von Eresos|Theophrast]] bezeichnete – wie Diogenes Laertios berichtet – das Werk Heraklits als halbfertig und in unterschiedlichen Stilen verfasst, was er auf die [[Melancholie]] des Autors zurückführte. Diogenes Laertios merkte an, die Schrift Heraklits sei in drei Abschnitte über [[Kosmologie]], [[Politik]] und [[Theologie]] aufgeteilt gewesen.<ref>Diogenes Laertios 9,5–6.</ref> Eine Zuordnung der einzelnen Fragmente zu diesen Teilen ist heute jedoch nicht mehr möglich, sodass die tatsächliche Form des Werkes letztlich unbekannt bleibt.
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| == Sprache ==
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| Heraklit verfasste sein Werk in [[Ionisches Griechisch|ionischem Griechisch]]. Die Fragmente beziehen sich, oft in poetischer Ausdrucksweise, auf Erscheinungen der natürlichen Umwelt wie Sonne, Erde und Luft oder auf Aspekte der Zeit wie Tag und Nacht, Morgen und Abend; sie erläutern philosophische Gedanken anhand von Naturvorgängen (Flussfragmente), Verhaltensmustern von Tieren oder menschlichen Tätigkeiten. Heraklits Sprache ist zugleich voller [[Aphorismus|Aphorismen]], [[Paradoxon|Paradoxien]] und [[Wortspiel]]e, welche seine Textstücke verdichten und ihre Ergründung erschweren, sodass ihm bereits in der Antike der Beiname „der Dunkle“<ref>Zum Beispiel Cicero, ''[[De finibus bonorum et malorum]]'' 2,15.</ref> verliehen wurde. Zudem bedient sich Heraklit einer Sprache, die je nach individueller [[Lesart]] vielschichtig gedeutet werden kann.<ref>Charles H. Kahn (Hrsg.): ''The Art and Thought of Heraclitus. An edition of the fragments with translation and commentary'', Cambridge 1981, S. 89.</ref> Die Dunkelheit der Sprache Heraklits ist die Folge einer für ihn „charakteristischen doppelbödigen Ausdrucksweise […], die der Doppelbödigkeit seiner Gleichnisse entspricht.“<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 185.</ref>
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| Beispielhaft zeigt sich das etwa im ersten Fragment der Diels-Edition (B 1): „Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis […].“<ref name="B1">DK 22 B 1; Übersetzung leicht variiert nach Hans-Georg Gadamer (Hrsg.): ''Philosophisches Lesebuch'', Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 27 ({{lang|grc|τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει· τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται.}}).</ref> Bereits [[Aristoteles]] kritisierte, dass dabei das tatsächlich nur einmal vorkommende Wort „immer“ ({{lang|grc|ἀεί|aeí}}) nicht eindeutig auf das davor stehende [[Partizip]] von „sein“ ({{lang|grc|ἐόντος|eóntos}}) oder das folgende „unvernünftig“ oder „ohne Verständnis“ ({{lang|grc|ἀξύνετοι|axýnetoi}}) bezogen ist, und warf Heraklit Ausdrucksschwäche vor.<ref>Aristoteles, ''[[Rhetorik (Aristoteles)|Rhetorik]]'' 1407b11–18.</ref> Moderne Übersetzer stehen hier vor einem Dilemma, da sie sich für eine der Möglichkeiten oder eine Kombination beider Varianten entscheiden müssen.<ref>[[David Sider]]: ''Word Order and Sense in Heraclitus: Fragment One and the River Fragment''. In: Konstantine J. Boudouris (Hrsg.): ''Ionian Philosophy'', Athen 1989, S. 363–368, hier: 364.</ref> So übersetzt beispielsweise Rapp den Begriff Logos allgemein mit „Darstellung“ oder „Erklärung“ und akzentuiert dessen allgemeine Gültigkeit: „Obwohl die hier gegebene Erklärung ''(lógos)'' immer gilt, werden die Menschen sie nicht verstehen […].“<ref>Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 65 f.</ref>
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| Die knappen Sprüche vereinen gelegentlich unterschiedliche Bedeutungen eines Wortes. So bedeutet beispielsweise das griechische Wort ''bios'' bei verschiedener Betonung sowohl „Leben“ ({{lang|grc|βίος|bíos}}) als auch „Bogen“ ({{lang|grc|βιός|biós}}), was in Fragment 48 zu einem Wortspiel genutzt wird: „Der Name des Bogens ist Leben, sein Tun Tod.“<ref name="B48">Übersetzung nach Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 51 ({{lang|grc|τῷ οὖν τόξῳ ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος.}}).</ref> Solche sprachlichen Entgegensetzungen und doppeldeutigen Anspielungen, gefügt in die Einheit eines Satzes, werden bisweilen auch als gewollte Spiegelungen der verborgenen Struktur des Logos interpretiert, der sich dergestalt als verschränkte Einheit von Gegensätzen erweist.<ref>Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: [[Friedo Ricken]] (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 81. Ähnlich Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 51: „Im Worte schon ist die Einheit der Gegensätze darin. Das ist gewiß der Grund, warum Heraklit Wortspiele besonders liebt. Sie erlauben ihm, seine eigene Wahrheit im Wortlaut einzufangen und den eingeebneten, gedankenlosen Umgang mit der Sprache gleichsam aufzustören.“</ref>
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| Die literaturgeschichtliche Einordnung der Fragmente Heraklits hängt von teilweise konträren Einschätzungen möglicher Beziehungen zur Ausdrucksweise anderer Autoren ab. Manche Forscher vergleichen die Sprache Heraklits mit antiken [[Orakel]]sprüchen, deren Inhalt nicht eindeutig formuliert, sondern chiffriert in oft antithetischen oder paradoxen Wendungen präsentiert wird.<ref>Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 64. Nach Rapp kann Fragment B 93: „Der Herr, dem das Orakel in [[Delphi]] gehört, sagt nichts, verbirgt nichts, sondern gibt Zeichen“ auch als Anspielung auf Heraklit selbst verstanden werden. In diesem Sinne äußerte sich auch schon Ernesto Leibovich: ''L’aiôn et le temps dans le fragment B 52 d’Héraclite''. In: ''Alter'' 2, 1994, S. 87–118, hier: 91.</ref> Andere finden in der [[Archaik|archaischen]] [[Prosa]] kein Vorbild für Heraklits vielseitigen Gebrauch von [[Rhetorische Figur|Stilmitteln]].<ref>Dieter Bremer: ''Logos, Sprache und Spiel bei Heraklit''. In: ''Synthesis philosophica'' 5 (fasc. 10), 1990, S. 379–391, hier: 380.</ref> Ferner sind die linguistischen Merkmale seiner Sprache mit den [[Chor (Theater)|Chorliedern]] der [[Antikes Griechenland#Klassische Zeit|klassischen]] [[Tragödie]] verglichen worden.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Vom Anfang bei Heraklit''. In: [[Ingeborg Schüßler|Ingeborg Schüssler]] (Hrsg.): ''Sein und Geschichtlichkeit. Karl-Heinz Volkmann-Schluck zum 60. Geburtstag'', Frankfurt a. M. 1974, S. 3–14, hier: 5.</ref>
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| == Philosophischer Horizont ==
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| Die Philosophie Heraklits wurde – etwas einseitig – bereits in der Antike [[Monismus|monistisch]] dergestalt verstanden, dass alle Dinge aus einem vernünftigen Weltfeuer hervorgehen.<ref>Diogenes Laertios 9,6.</ref> Aus dem Feuer entsteht nach Heraklit die Welt, die in allen ihren Erscheinungsformen eine den meisten Menschen verborgene vernunftgemäße Fügung gemäß dem Weltgesetz des [[Logos]] erkennen lässt. Alles befindet sich in einem ständigen, fließenden Prozess des [[Werden (Philosophie)|Werdens]], welches vordergründige Gegensätze in einer übergeordneten Einheit zusammenfasst. Aus dieser Auffassung entstand später die verkürzende Formulierung „Alles fließt“ (πάντα ῥεῖ ''pánta rheî'').
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| === Erfahrung und Erkenntnis ===
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| Ein zentraler Aspekt der heraklitischen Philosophie ist die Unterscheidung von lebensweltlichen Erfahrungen, wie sie die Masse der Menschen (hoi polloí, „die Vielen“) macht, und tiefer gegründeten Zugängen zur Lebenswirklichkeit, die allein zu [[Erkenntnis]] im Sinne des Logos führen. „Die Vielen“ stehen bei Heraklit in einer bestimmten Hinsicht für den Menschen, der sich nicht wahrer Philosophie widmet und daher nicht zu tieferer Erkenntnis vordringen kann.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 441.</ref> Der facettenreich wiederholte Ausgangsgedanke des heraklitischen Philosophierens, der an vielen Stellen des Werkes aufscheint, ist demnach „die Bekämpfung und zugleich kritische Charakterisierung der Denk- und Verhaltensart der Vielen“<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 128.</ref> und die Überwindung ihrer nur partiellen Erfahrungen und Teilwahrheiten in einer Gesamtsicht.<ref>[[Andreas Graeser]]: ''Hauptwerke der Philosophie. Antike'', Stuttgart 1992, S. 29.</ref> In scharfer Abgrenzung gegenüber der „vor- und außerphilosophischen Denk- und Verhaltensart“ derer, die die Realität nicht erkennen, beansprucht Heraklit, den Logos erkannt zu haben.<ref name="Held 1980, S. 130">Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 130.</ref>
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| Die Aussagen zu diesem Grundthema sind teils belehrender, teils polemischer Art. In dem üblicherweise als Einleitung zum Werk aufgefassten Fragment B 1, das im Stil eines [[Proömium]]s verfasst ist und das längste von allen Fragmenten darstellt, spricht Heraklit diesen Zusammenhang an:
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| {{Zitat|Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Alles geschieht nach diesem Logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich’s damit verhält. Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlafe [tun].|ref=<ref name="B1" />}}
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| Trotz eines prinzipiell möglichen Zugangs zu Erkenntnis sind für Heraklit die meisten seiner Mitmenschen somit Unbelehrbare, die ihre trügerische Realitätswahrnehmung selbst dann nicht hinterfragen, wenn sie mit dem Logos in Berührung gekommen sind. So wie im Schlaf die Realität verlassen und eine individuelle Welt betreten wird, konstruieren sie untereinander verschiedene Erklärungen der Wirklichkeit, ohne deren Beschaffenheit zu begreifen. Wahre menschliche Erkenntnis setzt für Heraklit voraus, den Logos als Denk- und Weltgesetz zu erkennen und das eigene Handeln und Denken an ihm auszurichten. Erst durch das Hinhören auf die Natur erschließt sich das Naturgemäße und steht so als Maßstab des Handelns in Verbindung mit dem durch den Logos vorgegebenen Vernunftgemäßen.<ref>Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 91 f.</ref>
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| {{Zitat|Richtiges Bewusstsein ist die größte Tugend, und Weisheit (ist es), Wahres zu sagen und zu handeln nach der Natur, auf sie hinhörend.|ref=<ref>DK 22 B 112; Übertragung nach Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 91 ({{lang|grc|σωφρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη, καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαίοντας.}}).</ref>}}
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| Die große Anzahl der Fragmente, in denen sich Heraklit um eine Abgrenzung von allgemein verbreiteten Ansichten bemüht, deutet darauf hin, dass hierin ein Kern seines Werkes liegt.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 129 f.</ref> Allein 13 Fragmente thematisieren das nicht-philosophische Denken anderer direkt,<ref>DK 22 B 17, B 19, B 28, B 34, B 46, B 56, B 85, B 87, B 95, B 97, B 104, B 107, B 121; Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 128.</ref> 14 weitere heben ausdrücklich den Unterschied zwischen dem Denken und Verhalten der „Vielen“ und demjenigen der „Wenigen“ hervor.<ref>DK 22 B 1, B 4, B 9, B 10, B 13, B 21, B 24, B 25, B 26, B 29, B 37, B 49, B 54, B 89; Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 128.</ref> In sechs Fragmenten richtet Heraklit zudem seine Polemik gegen Dichter und Philosophen, deren Äußerungen für ihn den Standpunkt der breiten Masse repräsentieren.<ref name="B40">DK 22 B 40, B 42, B 57, B 81, B 106, B 129; Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 128.</ref>
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| === Werden und Vergehen ===
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| Seit Platon wird bei der Deutung der Philosophie Heraklits oft betont, dass die Struktur der Realität darin nicht als statisch, sondern als prozesshaft aufgefasst wird. Demnach ist die alltägliche Erfahrung von Stabilität und Identität irreführend. Die scheinbare Stabilität bildet nur die Oberfläche und ist nicht die ganze Wahrheit. Vielmehr ist Stabilität die Funktion von Bewegung.<ref>Andreas Graeser: ''Hauptwerke der Philosophie. Antike'', Stuttgart 1992, S. 42.</ref> Das Grundprinzip des [[Universum|Kosmos]] ist nach Heraklit nicht – wie etwa für [[Parmenides von Elea]] – ein statisches, gleichbleibendes [[Sein]], sondern das [[Werden (Philosophie)|Werden]]. Während Parmenides das Nicht-Sein und damit das Werden radikal leugnet, betont Heraklit das gegensätzliche, aber in untrennbarer Einheit verschränkte Verhältnis von Sein und Werden.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 80 f.: „Denn was wäre Sein ohne Werden? – eine unerkennbare, gestaltlose Masse ohne Struktur und Leben; und was wäre Werden ohne Sein? – eine unerkennbare Bewegung ohne Richtung und Zweck, eine Veränderung von nichts zu nichts.“ Zu den konträren Positionen von Heraklit und Parmenides siehe Margot Fleischer: ''Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios'', Würzburg 2001, S. 115 f.</ref>
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| Die so genannten Flussfragmente, die das metaphorische Bild des Flusses mehrfach variieren,<ref>DK 22 B 12, DK 22 B 49a: „In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht: Wir sind es und sind es nicht“ ({{lang|grc|ποταμοῖς τοῖς αὐτοῖς ἐμβαίνομέν τε καὶ οὐκ ἐμβαίνομεν, εἶμέν τε καὶ οὐκ εἶμεν}}). B 49a gilt jedoch als nur vage Anlehnung an den Originaltext, wobei der gesamte zweite Teil nicht authentisch ist; Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 326. DK 22 B 91: „[Der Fluss] zerstreut und sammelt sie wiederum und naht sich und entfernt sich“ ({{lang|grc|σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει καὶ πρόσεισι καὶ ἀπεισι·}}).</ref> stehen für diese Gesamtheit von Werden und Wandel, die Natur und Weltgeschehen als eigentliches Seinsgesetz konstituiert:
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| {{Zitat|Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.|ref=<ref>DK 22 B 12 ({{lang|grc|ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ·}}).</ref>}}
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| Die spezielle [[Ontologie|ontologische]] und [[Terminologie|terminologische]] Bedeutung des Flusses ergibt sich aus einer Doppelkonstellation: Seine Identität als Objekt verdankt der Fluss dem festen Flussbett mit seinen begrenzenden Ufern, ohne die er nicht ein bestimmbares Ganzes wäre. Anderseits würde die spezifische Eigenschaft eines Flusses fehlen, wenn das Wasser sich nicht in ständiger Bewegung befände. Heraklit beschreibt somit bildlich „Selbigkeit als Beständigkeit einerseits, Herbeikommen von anderem und immer anderem andererseits“.<ref>Margot Fleischer: ''Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios'', Würzburg 2001, S. 30.</ref> Das Werden zerstört die Konstanz nicht, es ist vielmehr eine notwendige Bedingung dafür.
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| Andere Interpreten sehen in den Flussbildern eine [[Metapher]] für die [[Zeit]], deren unwandelbarer periodischer Übergang von Tag und Nacht, Sommer und Winter vom gleichbleibenden Flussbett symbolisiert wird; wie die fließenden Wasser geht sie dahin, ohne die höher stehende konstante Ordnung zu verlassen. Die so gedeutete Zeitvorstellung vereinigt das lineare Zeitbild des ständig fortlaufenden Stromes mit periodischen Elementen, die in den [[Topografie (Kartografie)|topographischen]] Konstanten des Flusses enthalten sind.<ref>Margot Fleischer: ''Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios'', Würzburg 2001, S. 31; ähnlich Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 327 f.</ref> Die Beständigkeit des Flusslaufes und die Ruhelosigkeit seines Fließens, das heißt die Kombination von Konstanz und Variabilität, stellt zudem ein Beispiel für die „Einheit der Gegensätze“ dar, die ein weiteres Kernelement der heraklitischen Lehre bildet.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 42.</ref>
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| === Gegensatz und Einheit ===
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| Heraklit betrachtet die Erfahrungswelt des Menschen als ein Ganzes von Gegensätzen, die ineinander umschlagen und sich von einem Pol zum anderen wandeln. Die Gegensatzpaare folgen dabei nicht nur einem äußerlichen Prozess, sondern sind als Gegensätze schon ineinander verschränkt. Das Umschlagen der Gegensätze geschieht dabei wohl „gemäß Streit und Schuldigkeit“ ({{lang|grc|κατ᾽ ἔριν καὶ χρεών|kat' érin kaì chreōn}})<ref>DK 22 B 80.</ref> im Spannungsverhältnis der jeweiligen Bezugspole. So stellt Heraklit etwa Tag und Nacht einander gegenüber:<ref name="DK 22 B 57">DK 22 B 57.</ref> Sie schlagen ineinander um, indem der Tag sich in der Abenddämmerung dem Ende zuneigt und damit das Einsetzen der Nacht bedingt. Im gegenläufigen Prozess der Morgendämmerung geht aus dem Rückgang der Dunkelheit der Tag wiederum hervor.<ref>Margot Fleischer: ''Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios'', Würzburg 2001, S. 23.</ref>
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| Die Pole eines Gegensatzes sind nur im Kontrast zueinander überhaupt erfahrbar und daher zeitlich nicht getrennt, sondern bestehen in Form einer logischen wechselseitigen Verschränkung zugleich. Wesentlich durch den jeweiligen Gegensatz sind manchen Fragmenten Heraklits zufolge einzelne Begriffe definiert, denn erst „Krankheit macht die Gesundheit angenehm, Übel das Gute, Hunger den Überfluss, Mühe die Ruhe“;<ref>DK 22 B 111.</ref> Götter werden erst im Kontrast zu Menschen denkbar.<ref>DK 22 B 62: „Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: Sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben“ ({{lang|grc|ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι. ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες}}).</ref> Gerade im Gegensatz zeigt sich somit Einheit in Form der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen.
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| Etwas anders gewendet ist die von den Vielen verkannte Einheit des scheinbar Gegenstrebigen in Fragment B 51:
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| {{Zitat|Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht: gegenspännige Zusammenfügung wie von Bogen und Leier.|ref=<ref>DK 22 B 51, Übersetzung nach Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 166 ({{lang|grc|οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ συμφέρεται· παλίντονος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης}}).</ref>}}
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| Das gemeinsame Merkmal von Bogen und Leier besteht in den einander gegenüberliegenden Schenkeln eines rundgebogenen Holzes, zwischen denen eine oder mehrere Saiten gespannt sind. Obwohl die jeweiligen Enden auseinander streben, bilden sie doch in beiden Fällen eine funktionsgerichtete Einheit.<ref>Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 88 verweist zudem darauf, dass Bogen und Leier (oder Lyra) außerdem auf höherer Ebene geeint sind in der Hand des Gottes [[Apollon]], der als Inbegriff der Harmonie mit der Lyra abgebildet wird, der andererseits in der ''[[Ilias]]'' aber mit Hilfe des Bogens Pfeile ins Griechenlager sendet, die dort Pest und Streit auslösen.</ref> Andere Fragmente nennen als Beispiele von sich zur Einheit fügenden Gegensatzpaaren etwa den Kreis, auf dem Anfang und Ende zusammenfallen, oder die identische Strecke beim Auf- und Abstieg.<ref>DK 22 B 103: „Denn beim Kreisumfang ist Anfang und Ende gemeinsam“ ({{lang|grc|ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας}}); B 60: „Der Weg auf und ab ist ein und derselbe“ ({{lang|grc|ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ωὑτή}}).</ref> In einem weiteren Fragment weist Heraklit auf die gegensätzliche Bedeutung des Meerwassers hin, das für Fische die Lebensgrundlage, für Menschen jedoch ungenießbar und tödlich ist.<ref>DK 22 B 61: „Meerwasser ist das reinste und scheußlichste: für Fische trinkbar und lebenserhaltend, für Menschen untrinkbar und tödlich“ ({{lang|grc|θάλασσα ὕδωρ καθαρώτατον καὶ μιαρώτατον, ἰχθύσι μὲν πότιμον καὶ σωτήριον, ἀνθρώποις δὲ ἄποτον καὶ ὀλέθριον}}).</ref> Zugespitzt begegnet dieser Gedanke in Fragment B 88:
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| {{Zitat|Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um.|ref=<ref>Übersetzung nach Hans-Georg Gadamer: ''Philosophisches Lesebuch'', Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 29 ({{lang|grc|ταὐτὸ ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν· τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα}}).</ref>}}
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| === Kosmos und Feuer ===
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| Der Begriff Kosmos steht auch im vorphilosophischen Sprachgebrauch bereits im Gegensatz zur Unordnung. Grundsätzlich kann er jede Art von Aufstellung, beispielsweise eines Heeres, oder von Gestaltung, etwa einer Sozialordnung, bezeichnen; seit den Milesiern steht der Ausdruck im philosophischen Sinn speziell für die Ordnung der Welt als eines harmonischen Ganzen.<ref>Zur Verwendung des Begriffs in der frühen griechischen Philosophie siehe Charles H. Kahn: ''Anaximander and the Origins of Greek Cosmology'', Indianapolis 1994, S. 219–230.</ref> Heraklits [[Kosmologie]] ist nur schwer zu rekonstruieren. Jedenfalls spielt in seiner Vorstellung von der kosmischen Ordnung die Feuer-Theorie eine maßgebliche Rolle. In Fragment B 30 entwickelt Heraklit diese Theorie abseits der traditionellen Göttervorstellungen, wobei er von der Annahme eines Weltfeuers ausgeht. In Fragment B 31 knüpft er daran an und beschreibt den Kosmos wie folgt:
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| {{Zitat|Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend.<br />
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| Feuers Wandlungen: erstens Meer, die Hälfte davon Erde, die andere Glutwind. […] Es [das Feuer] zerfließt als Meer und erhält sein Maß nach demselben Wort [Gesetz], wie es galt, ehe denn es Erde ward.
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| |ref=<ref>DK 22 B 30 ({{lang|grc|κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα}}); DK 22 B 31 ({{lang|grc|πυρὸς τροπαὶ πρῶτον θάλασσα, θαλάσσης δὲ τὸ μὲν ἥμισυ γῆ, τὸ δὲ ἥμισυ πρηστήρ […] θάλασσα διαχέεται καὶ μετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον, ὁκοῖος πρόσθεν ἦν ἢ γενέσθαι γῆ}}).</ref>}}
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| Heraklit sieht in Fragment B 30 den Kosmos als materielle Ausformung des Weltfeuers, nicht im Sinne eines [[Schöpfung]]smythos geschaffen und von ewigem Fortbestand. Das Weltfeuer selbst schlägt dabei Fragment B 31 zufolge materiell in andere Elemente um, aus denen sich der sichtbare Kosmos zusammensetzt. Dabei wird schrittweise das heiße und trockene Weltfeuer<ref>Das Weltfeuer Heraklits ist nicht als kosmisches Substrat oder Urstoff zu verstehen oder im Sinne der [[Vier-Elemente-Lehre#Griechische Philosophen|Elementenlehren]] anderer Vorsokratiker oder des Aristoteles zu deuten; siehe dazu Dieter Bremer, Roman Dilcher: ''Heraklit.'' In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): ''Frühgriechische Philosophie'' (= ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike.'' Band 1), Halbband 2, Basel 2013, S. 601–656, hier: 617; Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'', Bd. 3/2, Sankt Augustin 2008, S. 142–144.</ref> zunächst in sein Gegenteil verwandelt, in feuchtes und kaltes Wasser. Darin verlöscht das Weltfeuer gänzlich, sodass das Wasser in diesem Stadium das einzige kosmische Element darstellt. Später geht das Meer in andere gegenteilige Qualitäten über, teils in Erde und teils in Glutwind. Der Glutwind lässt die [[Gestirn]]e als sichtbares Himmelsfeuer aus verdunstetem Wasser entstehen, das von der Erde aufsteigt, sich wie in einem umgestülpten [[Nachen]] fängt und sich in Form der wahrnehmbaren Himmelskörper entzündet.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 404.</ref> Der gesamte Vorgang läuft auch in der umgekehrten Richtung ab.<ref>Schon in der Antike (z. B. Aristoteles, ''De caelo'' 279b12–17) war umstritten, ob Heraklit eine [[Ekpyrosis]]-Theorie lehrte, welche einen Weltenbrand annimmt, oder aber eine andersartige Transformation des gesamten Kosmos zurück in das Ausgangselement Weltfeuer beschreibt; Margot Fleischer: ''Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios'', Würzburg 2001, S. 35.</ref> Dadurch entzündet sich das Feuer erneut und der [[Periodizität|Zyklus]] des Kosmosgeschehens kann neu einsetzen. Während aller Veränderungen bewahrt der Kosmos so wie der Fluss in den Fluss-Fragmenten ein Gleichgewicht der transformierten Anteile.
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| Indem Heraklits Lehre bestimmte Gestalten und Prozesse mit der Spannung von Gegensätzlichem und Gegenläufigem verbindet und in einem dynamischen Gleichgewicht aufgehoben sieht, erschließt sich auch sein metaphysisches Interesse am Feuer: „Deshalb wurde das ‚nach Maßen’ entflammende und nach gleichen Maßen verlöschende Feuer in Analogie zur bewegenden und belebenden Kraft der psyche zu einem sinnlichen Symbol für einen in sich bewegten und geordneten Kosmos und für eine Natur, die sich selbst individuell organisierte und gestaltete.“<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 135 f.</ref> Das aus dem Mythos geläufige Bild von der Sonne als kreisförmig sich bewegendem Feuerball konnte als sichtbares Zeichen einer unermesslichen Kraftquelle gedeutet werden, „die gleichwohl an sich hielt, und ohne die das kosmische und terrestrische Geschehen nicht zu begreifen war.“<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 137; noch [[Cicero]] habe Heraklit auf diese Weise verstanden, merkt Pleines an, wenn er von ''ignea vis'' sprach, von der entflammenden und verlöschenden Kraft, die ihm half, die Natur zu verstehen.</ref>
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| Feuer ({{lang|grc|πῦρ|pŷr}}), das in der Tradition der [[Ionische Naturphilosophie|ionischen Naturphilosophen]] als Urstoff ([[Arché]]) fungiert, ist bei Heraklit auch als Metapher für den Logos zu verstehen, dessen Dynamik die Welt durchwaltet und dessen Wandlung ihr Seinsprinzip bildet. So charakterisiert er das Feuer als „ewig lebendig“ ({{lang|grc|ἀείζωον|aeízōon}}) und „vernünftig“ ({{lang|grc|φρόνιμον|phrónimon}}). Heraklits Feuer-Theorie steht außerdem auch für die Vorstellung, dass sich „alles in einem“ finde, da aus allem Feuer und aus Feuer alles andere hervorgehen soll.<ref>DK B 90: „Für Feuer ist Gegentausch alles und für alles Feuer wie für Gold Geld und für Geld Gold“ ({{lang|grc|πυρός τε ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός}}).</ref> Feuer als die kosmologisch-physikalische Form des Logos anzusehen sei denen unmittelbar einsichtig, die im Logos ein aktiv wirkendes Prinzip sehen: Wie das Feuer habe auch der Logos das Weltgeschehen zu steuern.<ref>Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 89.</ref>
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| === Logos und Seele ===
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| Der heraklitische Logos hat einen universalen, allgemein gültigen Charakter und steht allen Menschen als gemeinsame „Denkform“<ref>Hermann Fränkel: ''Eine heraklitische Denkform''. In: Hermann Fränkel: ''Wege und Formen frühgriechischen Denkens'', 3., durchgesehene Auflage, München 1968, S. 253–283.</ref> und „Denkverfahren“<ref>Wolfgang Schadewaldt: ''Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen'', Frankfurt am Main 1978, S. 373.</ref> offen. Somit beinhaltet er sowohl einen objektiven Bedeutungsgehalt als Regelungsprinzip im Sinne eines „Weltgesetzes“, einer „Weltvernunft“ oder eines „Sinns“ als auch einen subjektiven und allgemeineren wie „Wort“, „Rede“, „Darlegung“, „Lehre“.<ref>Zur näheren Differenzierung siehe Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 176.</ref> Dadurch ist Heraklits Vortrag auch sprachlich eng mit dem Inhalt dieses Begriffs verbunden. Dieser Logos ist nach Heraklit aufgrund seiner Allgemeinheit erfahrbar wie auch in den eigenen Worten Heraklits vermittelt. Denken im heraklitischen Sinne hat daher Erkenntnis und Vollzug des Logos zum Ziel. Dennoch verlieren sich die meisten Menschen in eigenen Meinungen, ohne den allen gemeinsamen Logos begreifen zu wollen. Ob der Logos aber tatsächlich erkannt wird, ist für Heraklit nicht entscheidend, da er stets außerhalb des menschlichen Verstandes existiert und in Übereinstimmung mit ihm alle Prozesse verlaufen, wodurch im Logos „alles eins ist“ ({{lang|grc|ἓν πάντα εἶναι|hén pánta eînai}}):
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| {{Zitat|Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Alles geschieht nach diesem Logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich’s damit verhält.|ref=<ref name="B1" />}}
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| {{Zitat|Drum ist’s Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Logos allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.|ref=<ref>DK 22 B 2 ({{lang|grc|διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ, τουτέστι τῷ κοινῷ· ξυνὸς γὰρ ὁ κοινός. τοῦ λόγου δ᾽ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἱδίαν ἔχοντες φρόνησιν}}).</ref>}}
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| {{Zitat|Habt ihr nicht mich, sondern meinen Logos vernommen, ist es weise zuzugestehen, dass alles eins ist.|ref=<ref>DK 22 B 50 ({{lang|grc|οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι}}).</ref>}}
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| Ähnlich dem Kosmos ist auch die [[Seele]] ({{lang|grc|ψυχή|psychḗ}}) vom Logos bestimmt und unterliegt vergleichbaren Umwandlungsprozessen. Da die Seele Anteil am Logos besitzt und dieser sie als überindividuelles, allen gemeinsames und ewiges Gesetz beherrscht und durchwirkt, kann er durch „Selbsterforschung“<ref>DK 22 B 101.</ref> erfahren werden. Damit weist Heraklit der Seele eine gewisse „intellektuelle Funktion“ zu, die weit über den älteren Sinn des Wortes hinausgeht.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 189. Ähnlich interpretiert Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 90: „Heraklit lokalisiert offenbar die intellektuellen Fähigkeiten in der Seele und sieht sie proportional zum Anteil des Feuers, also der Trockenheit der Seele, wachsen.“</ref> Allerdings ist eine „Barbarenseele“ nicht fähig, den Logos unverfälscht wahrzunehmen.<ref>DK 22 B 107.</ref> Das Verständnis des überindividuellen und ewigen Gesetzes des Logos beginnt somit in der individuellen Seele, deren Gestalt, Umfang oder Potential zu bestimmen oder auszuloten sich aber als vergeblich erweisen muss:
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| {{Zitat|Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie.|ref=<ref>DK 22 B 45 ({{lang|grc|ψυχῆς πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει}}).</ref>}}
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| {{Zitat|Der Seele ist der Logos eigen, der sich selbst mehrt.|ref=<ref>DK 22 B 115 ({{lang|grc|ψυχῆς ἐστι λόγος ἑωυτὸν αὔξων}}).</ref>}}
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| Die Seelenlehre Heraklits lässt sich aus den wenigen einschlägigen Fragmenten nicht exakt erschließen; doch ergibt sich daraus, dass die Seele den gleichen Umschlagprozessen wie der Kosmos unterworfen ist. So wird die Seele in das gleiche zyklische Verhältnis zu den Elementen Erde und Wasser gesetzt, in dem laut Fragment B 31 das kosmische Weltfeuer zu den übrigen Elementen steht:
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| {{Zitat|Für die Seelen ist es Tod zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod zur Erde zu werden. Aus der Erde wird Wasser, aus Wasser Seele.|ref=<ref>DK 22 B 36 ({{lang|grc|ψυχῇσιν θάνατος ὕδωρ γενέσθαι, ὕδατι δὲ θάνατος γῆν γενέσθαι, ἐκ γῆς δὲ ὕδωρ γίνεται, ἐξ ὕδατος δὲ ψυχή}}); Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 90.</ref>}}
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| Dieses Fragment behandelt die Seele zwar als sterblich; da Heraklit sie jedoch zum Weltfeuer, das trotz des Umwandlungsgeschehens in seiner Gesamtheit unvergänglich ist, in Analogie setzt, scheint er ihr auch einen Unsterblichkeitsaspekt zuzuweisen. Einigen Interpreten zufolge spricht Heraklit der Seele nur in jenem Maße Unsterblichkeit zu, in dem sie sich dem [[Denken]] und damit dem Logos zuwendet,<ref name="Held 1980, S. 431">Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 431.</ref> eine „bedingte Unsterblichkeit“ gewissermaßen.<ref>[[Uvo Hölscher (Philologe)|Uvo Hölscher]]: ''Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie'', Göttingen 1968, S. 157 f.</ref> Für diese Deutung sprechen einige Fragmente. Möglicherweise lehrte Heraklit ähnlich wie [[Hesiod]], dass „die Tapferen nach dem Tode mit einem neuen Leben als heroische Wächter über die Lebenden belohnt werden“.<ref name="Held 1980, S. 431" /> Darauf spielen vielleicht einige Fragmente an, die einem ehrenvollen Leben einen unsterblichen Lohn verheißen.<ref>DK 22 B 24, B 25, B 27.</ref> Andere Interpreten meinen, dass die Seelen der Besten im Gegensatz zu denen der Vielen nicht in Wasser aufgelöst werden, sondern zunächst als körperlose Geister bestehen bleiben, bevor sie – letztlich im Sinne von Sterblichkeit – im Weltfeuer aufgehen.<ref>Geoffrey Kirk: ''Heraclitus and Death in Battle (Fr. 24 D)''. In: ''[[American Journal of Philology]]'' 70, 1949, S. 384–393.</ref> Eine abschließende Antwort auf diese Frage ist jedoch kaum möglich.
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| === Polis und Nomos ===
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| Hinweise auf Heraklits politisches Denken sind in den Fragmenten nur spärlich zu finden. Dennoch sehen manche Interpreten weniger die Kosmologie, sondern gerade „das Ganze des menschlich-politischen Lebens“ als den Kern der Philosophie Heraklits.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 12 f., 19.</ref> So deuten einige Fragmente an, dass Heraklits Lehre wesentlich auf die Natur des Menschen und auf die daraus sich ergebenden Gestaltungsaufgaben des sozialen Miteinanders zielte; so betont Heraklit etwa in einem Fragment, dass „seine eigene Art […] dem Menschen sein Daimon“ sei.<ref>DK 22 B 119 ({{lang|grc|ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων}}).</ref> Daimon steht dabei für das [[Schicksal]] des Menschen, das dieser nach herkömmlicher Vorstellung von den Göttern und somit von einer äußeren Instanz empfängt. Heraklit verbindet hingegen die Lebensführung des Menschen mit dessen Schicksal: „Was traditionell als Gegensatz von Göttlichem und Menschlichem, Fremdem und Eigenem erscheint, wird von Heraklit – sprachlich und gedanklich – im Menschen als Mitte zusammengefügt: Daimon und [[Ethos]] sind eins und dasselbe.“<ref>Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 77.</ref> Der Auffassung Heraklits zufolge tritt somit „an die Stelle der göttlichen Autorität das menschliche Selbst als neue Instanz.“<ref>Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 76. Zur Selbstsuche siehe auch Fragment B 101.</ref>
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| Zugleich ist Heraklits Philosophie nicht nur auf den einzelnen Menschen gerichtet, sondern wesentlich auch auf das [[Gemeinwesen]],<ref>Gottfried Neeße: ''Heraklit heute. Die Fragmente seiner Lehre als Urmuster europäischer Philosophie'', Hildesheim 1982, S. 108. Zu Heraklits Begriff ''{{lang|grc|ξύνον}}'' ({{lang|grc-Latn|xýnon}}) bemerkt Neeße: „Im Altgriechischen steht das Wort zuerst einmal für ‚Gemeinwesen’ wie auch ‚Gemeinwohl’, und so wird es auch Heraklit aufgefasst haben.“</ref> wie es in B 2 als das allen „Gemeinsame“ bezeichnet wird: „Drum ist’s Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Logos allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.“<ref>διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ, τουτέστι τῷ κοινῷ· ξυνὸς γὰρ ὁ κοινός. τοῦ λόγου δ᾽ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἱδίαν ἔχοντες φρόνησιν.</ref> Elementare Bedeutung im politischen Leben hat damit für Heraklit das allgemein gültige Gesetz, der [[Nomos (Antike)|Nomos]], als die rechtliche Grundordnung der [[Polis]]. Er stellt sie auf eine Stufe mit der militärischen Verteidigungsbereitschaft des Gemeinwesens nach außen: „Kämpfen muß das Volk für den Nomos wie für die Stadtmauer.“<ref>Übersetzung nach Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 138 ({{lang|grc|μάχεσθαι χρὴ τὸν δῆμον ὑπὲρ τοῦ νόμου ὅκωσπερ τείχεος}}).</ref>
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| Fragment B 114 setzt die Bedeutung des Nomos für die Polis ebenfalls als grundlegend voraus, wobei der Vergleich hier wiederum die Gesamtausrichtung des Denkens auf das allen Gemeinsame unterstreichen soll, das aus dem göttlichen Allgesetz folgt.<ref>„Um mit Geist zu reden, muss man sich auf den Geist des Ganzen stützen, so wie die Stadt sich auf das Gesetz stützt, ja noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze aus dem Einzigen, dem Göttlichen. Das nämlich herrscht so weit, wie es immer will, ist für alles genug und ist immer noch mehr.“ Übersetzung nach Hans-Georg Gadamer: ''Philosophisches Lesebuch'', Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 27 ({{lang|grc|ξὺν νῷ λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῷ ξυνῷ πάντων, ὅκωσπερ νόμῳ πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως. τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου· κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται}}).</ref> Wie die Polis Stärke gewinnt aus der Orientierung der Bürger am Nomos, so gewinnt das Denken an Ergiebigkeit, wenn es sich auf das Gemeinsame bezieht.
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| Konkrete Vorstellungen Heraklits zur idealen Polis-Verfassung sind den Fragmenten nicht zu entnehmen. Wenn es in B 33 heißt, dass Gesetz auch besagen könne, „dem Willen eines einzigen zu gehorchen“<ref>„Gesetz kann auch sein, dem Willen eines einzigen zu gehorchen.“ Übersetzung nach Hans-Georg Gadamer: ''Philosophisches Lesebuch'', Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 27 ({{lang|grc|νόμος καὶ βουλῇ πείθεσθαι ἑνός}}).</ref>, so bietet die zeitgenössische griechische Poliswelt dafür verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten: In herausgehobener Funktion mit gesetzgebungsartigen Kompetenzen tätig waren neben den Vertretern der älteren [[Tyrannis]] auch die in der [[Griechische Kolonisation|Großen Kolonisation]] als Gründer fungierenden [[Oikist]]en und die bei inneren Poliskonflikten als Streitschlichter berufenen [[Aisymnet]]en, so im Falle [[Solon]]s von Athen. Welche politische Sonderrolle der von Heraklit offenbar hochgeschätzte Hermodoros in Milet gespielt hat, der nach Fragment B 121 von den Milesiern ins Exil gezwungen wurde, bleibt ebenfalls offen.
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| === Gott und Mensch ===
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| Die [[Theologie|theologischen]] Aussagen der erhaltenen Fragmente Heraklits lassen sich kaum zu einer kohärenten Lehre vereinen. Daher eröffnet sich in der Heraklit-Forschung ein weites Spektrum oft konträrer Deutungen der heraklitischen Theologie; bisweilen wird Heraklits Philosophie als radikale Kritik einer überkommenen [[Religion]] gesehen, andere Interpreten deuten sein Denken „als eine Bestätigung und Artikulation der religiösen Überlieferung“.<ref name="Held442">Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 442.</ref> Zu berücksichtigen ist dabei der Hintergrund seiner Unterscheidung von außerphilosophischer Ansicht und tieferer Einsicht; die Einsicht hat er möglicherweise als „Zurückführung der Überlieferung auf ihre Wahrheit“ aufgefasst.<ref name="Held442" />
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| Heraklits Gottesvorstellung oder Götterbild wird in den überlieferten Fragmenten vor allem in Verhältnisgleichungen mit den Größen Affe, Kind, Mann und Gottheit fassbar:
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| {{Zitat|Der schönste Affe ist häßlich mit dem Menschengeschlechte verglichen.|ref=<ref>DK 22 B 82 ({{lang|grc|πιθήκων ὁ κάλλιστος αἰσχρὸς ἀνθρώπων γένει συμβάλλειν}}).</ref>}}
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| {{Zitat|Der weiseste Mensch wird gegen Gott gehalten wie ein Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem andern.|ref=<ref>DK 22 B 83 ({{lang|grc|ἀνθρώπων ὁ σοφώτατος πρὸς θεὸν πίθηκος φανεῖται καὶ σοφίᾳ καὶ κάλλει καὶ τοῖς ἄλλοις πᾶσιν}}).</ref>}}
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| {{Zitat|Kindisch heißt der Mann der Gottheit wie der Knabe dem Manne.|ref=<ref>DK 22 B 79 ({{lang|grc|ἀνὴρ νήπιος ἤκουσε πρὸς δαίμονος ὅκωσπερ παῖς πρὸς ἀνδρός}}).</ref>}}
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| {{Zitat|Das Geschlecht der Menschen kommt nie zu wirklichen Einsichten, wohl aber das der Götter.|ref=<ref>DK 22 B 78 ({{lang|grc|ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γνώμας, θεῖον δὲ ἔχει}}).</ref>}}
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| Wie ein menschenähnlicher Affe hinter dem Menschen zurückbleibt, wird am Maßstab der göttlichen Weisheit selbst das relativiert, was dem Menschen als im höchsten Maße weise gilt, und stößt an seine Grenze; jedoch leugnet Heraklit damit nicht die Existenz Gottes oder mehrerer Götter.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 441: Indem Heraklit jenes Verhältnis primär vor dem Hintergrund der Unterscheidung von außerphilosophischen Ansichten und wahrer Erkenntnis der Wenigen auffasst, „übt er zugleich die entschiedenste Kritik an dem vorphilosophischen Selbstverständnis des Menschen hinsichtlich seines Verhältnisses zu Gott oder Göttern; er klärt auf, was es mit diesem Verhältnis in Wahrheit auf sich hat.“</ref>
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| Weitere Einschätzungen des Verhältnisses von Göttern und Menschen enthalten die beiden folgenden Fragmente:
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| {{Anker|Fragment 53}}
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| {{Zitat|Krieg ist Vater von allen, König von allen.<ref>Der Genitiv Plural πάντων ''pántōn'' („aller“) wird in der Fachliteratur von manchen Interpreten als Neutrum aufgefasst („aller [Dinge]“), von anderen als Maskulinum mit Bezug auf die anschließend genannten Personen (Götter und Menschen, Sklaven und Freie). Von den Herausgebern, Übersetzern und Kommentatoren bevorzugen die erstgenannte Deutung Hermann Diels, Walther Kranz: ''Die Fragmente der Vorsokratiker'', Band 1, Hildesheim 2004, S. 208; Carlo Diano, Giuseppe Serra: ''Eraclito: I frammenti e le testimonianze'', Mailand 1980, S. 115; Marcel Conche: ''Héraclite: Fragments'', 3. Auflage, Paris 1991, S. 441; Jean-François Pradeau: ''Héraclite: Fragments'', Paris 2002, S. 126, 234 und Francesco Fronterotta: ''Eraclito: Frammenti'', Mailand 2013, S. 47. Für die andere Auffassung entscheiden sich Jean Bollack, Heinz Wismann: ''Héraclite ou la séparation'', Paris 1972, S. 185; Miroslav Marcovich: ''Heraclitus: Greek text with a short commentary. Editio maior'', Mérida 1967, S. 146; Thomas M. Robinson: ''Heraclitus: Fragments'', Toronto 1987, S. 117; Geoffrey S. Kirk: ''Heraclitus: The Cosmic Fragments'', Cambridge 1970, S. 246–249; Serge Mouraviev: ''Heraclitea'', Band III.3.B/iii, Sankt Augustin 2006, S. 64 und Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 450 f.</ref> Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.|ref=<ref>DK 22 B 53 ({{lang|grc|Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστί, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους}}). Den vollständigen Text überliefert [[Hippolyt von Rom]], ''Refutatio contra omnes haereses'' 9,9,4; gekürzte und paraphrasierende Versionen in anderen Überlieferungen sind zusammengestellt bei Miroslav Marcovich: ''Heraclitus: Greek text with a short commentary. Editio maior'', Mérida 1967, S. 143 f.</ref>}}
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| {{Zitat|Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: Sie leben den Tod jener, und das Leben jener sterben sie.|ref=<ref>DK 22 B 62 ({{lang|grc|ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι. ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες}}).</ref>}}
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| Die [[Transitivität (Grammatik)|transitive]] Verwendung von „leben“ und „sterben“ deutet nach Held an, dass Heraklit das gesamte Leben als Sterben auffasst, wobei die menschliche Sterblichkeit zur göttlichen Unsterblichkeit in Kontrast tritt, sie als ihr Gegenteil erst bedingt und damit vollzieht oder erst denkbar macht. Das eigentliche Verhältnis von Gott und Mensch zeigt sich in diesem Verständnis des einen Status verleihenden Kampfes, aus dem sich der „Rangunterschied zwischen Göttern und Menschen […] ergibt: Offenbar lassen sich diese Gruppen nur durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu dem Tod, mit dem sie im Kampfe konfrontiert werden, unterscheiden. Die Götter gehen aus dem Kampfe als die wesenhaft vom Tode nicht Betroffenen hervor; die Menschen hingegen erweisen sich als die Sterblichen […].“<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 453.</ref> Daher findet auch jede Erkenntnis des Menschen an seiner Sterblichkeit ihre Grenze und unterscheidet sich somit von göttlicher Weisheit, mit der sie Heraklit generell parallelisiert oder zumindest vergleicht.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 456.</ref>
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| Wenngleich der heraklitische Gottesbegriff oft in unbestimmter Weise formuliert ist, führt doch ein weiteres Fragment zu einem konkreteren Verständnis der Theologie Heraklits:
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| {{Zitat|Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Überfluss und Hunger. Er wandelt sich aber wie ›eine Substanz‹, die, wenn sie mit Duftstoffen vermengt wird, nach dem jeweiligen Duft benannt wird.|ref=<ref>DK 22 B 67 ({{lang|grc|ὁ θεὸς ἡμέρη εὐφρόνη, χειμὼν θέρος, πόλεμος εἰρήνη, κόρος λιμός. ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ ›?‹, ὁπόταν συμμιγῇ θυώμασιν, ὀνομάζεται καθ᾽ ἡδονὴν ἑκάστου}}); das Subjekt des Vergleichs ist nicht erhalten. Man hat vermutet, dass Heraklit an Feuer, Wein oder Öl dachte; da diese Mutmaßungen aber spekulativ sind, wählt Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 460 f. die undifferenzierte Formulierung „Substanz“.</ref>}}
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| Held sieht in diesem Fragment einen Ausdruck des typisch griechischen Gottesbildes als [[Prädikation|Prädikatsbegriff]], also der Vorstellung, dass das Göttliche unterschiedliche Situationen durchdringt und sich dadurch für den Menschen erfahrbar macht, wodurch „Tag“ und „Nacht“ und andere lebensweltliche Umstände jeweils zu „dem Gott“ werden. Diese sind dabei Erscheinungsweisen des einen Gottes, der als Substrat unverändert bleibt, jedoch in einer anderen Situation erscheint und durch unterschiedliche Wahrnehmungsweisen aufgefasst wird. Die Pluralität der jeweiligen Göttergestalten beruht daher auf der Erfahrung des einen Gottes in vielfältigen Situationen, indem das Göttliche selbst gerade in seiner Differenz und Überlegenheit, die sich aus den menschlichen Eigenschaften ergibt, erfahren wird.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 456 ff.</ref>
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| === Weisheit und Unverstand ===
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| Aus zahlreichen Fragmenten geht hervor, dass Heraklit Weisheit äußerst elitär auffasst; in vollkommener Form schreibt er sie nur den Göttern zu. „Das allein Weise“ ({{lang|grc|τὸ σοφόν μοῦνον|to sophón moúnon}}) ist das höchste Denkbare; sein Rang ist allenfalls der herausragenden Stellung des Zeus in der [[Griechische Mythologie|griechischen Volksreligion]] vergleichbar.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 465 f.</ref> Theoretisch ist es zwar „allen Menschen […] gegeben, sich selbst zu erkennen und klug zu sein“,<ref>DK 22 B 116 ({{lang|grc|ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν}}).</ref> doch gelingt es nur den wenigsten, tatsächlich Weisheit zu erlangen:
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| {{Zitat|Das Weise ist nur eins. Es will sich nicht mit dem Namen des Zeus nennen lassen – und will es doch.|ref=<ref>DK 22 B 32; Übersetzung nach Hans-Georg Gadamer: ''Philosophisches Lesebuch'', Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 29 ({{lang|grc|ἓν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα}}).</ref> }}
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| {{Zitat|So viele Reden ich gehört habe, keine kommt je so weit zu erkennen: das Weise ist von allem geschieden.|ref=<ref>DK 22 B 108; Übersetzung nach Hans-Georg Gadamer: ''Philosophisches Lesebuch'', Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 28 ({{lang|grc|ὁκόσων λόγους ἤκουσα, οὐδεὶς ἀφικνεῖται ἐς τοῦτο, ὥστε γινώσκειν ὅτι σοφόν ἐστι πάντων κεχωρισμένον}}).</ref>}}
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| Bei seiner Kritik falsch verstandener Weisheit wendet sich Heraklit auch gegen bekannte Persönlichkeiten; so wirft er [[Hesiod]], [[Pythagoras]], [[Xenophanes]] und [[Hekataios von Milet|Hekataios]] vor, ohne Verstand lediglich „Vielwisserei“ ({{lang|grc|πολυμαθίη|polymathíē}}) betrieben zu haben, statt zu wahrem Wissen vorzudringen.<ref>DK 22 B 40.</ref> Zwar bescheinigt er seinem Zeitgenossen Pythagoras, mehr Studien betrieben zu haben als irgendein anderer Mensch;<ref>DK 22 B 129. Zweifel an der Echtheit von B 129 sind unbegründet; siehe [[Leonid Zhmud]]: ''Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus'', Berlin 1997, S. 35–37.</ref> jedoch beschuldigt er ihn der „Künstelei“ und nennt ihn spöttisch einen „Oberschwindler“ ''(kopídōn archēgós)''.<ref>DK 22 B 81.</ref> Den „Lehrer der meisten“, Hesiod, trifft die Kritik, die elementare Einheit der Gegensätze Tag und Nacht nicht erkannt zu haben.<ref name="DK 22 B 57" /> Ein Lob spendet Heraklit neben Hermodoros einzig dem Staatsmann [[Bias von Priene]],<ref>DK 22 B 39.</ref> mit dem er die Geringschätzung der breiten Masse teilt. Ein auf Bias gestütztes Zitat findet sich in Fragment B 104, in dem Heraklit polemisch über die [[Aöde]]n und späteren [[Rhapsode]]n spottet:
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| {{Zitat|Denn was ist ihr Sinn oder Verstand? Straßensängern glauben sie, und zum Lehrer haben sie den Pöbel. Denn sie wissen nicht, daß die meisten schlecht und nur wenige gut sind.|ref=<ref>DK 22 B 104 ({{lang|grc|τίς γὰρ αὐτῶν νόος ἢ φρήν; δήμων ἀοιδοῖσι πείθονται καὶ διδασκάλῳ χρείωνται ὁμίλῳ οὐκ εἰδότες ὅτι ›οἱ πολλοὶ κακοί, ὀλίγοι δὲ ἀγαθοί‹}}).</ref>}}
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| Insbesondere von [[Homer]] distanziert sich Heraklit scharf. Der Dichter habe es ebenso wie [[Archilochos]] verdient, aus musischen Wettbewerben hinausgeworfen und verprügelt zu werden.<ref>DK 22 B 42.</ref> Der Hintergrund dieser Polemik erschließt sich mit Blick auf den ''[[Ilias]]''-Vers „Schwände doch jeglicher Zwiespalt unter Göttern und Menschen“,<ref>''Ilias'' 18,107.</ref> gegen den Heraklit ausdrücklich Stellung bezieht.<ref>DK 22 A 22: „Heraklit verübelte es [Homer], dass er schrieb: ‚Schwände doch jeglicher Zwiespalt unter Göttern und Menschen‘“ ({{lang|grc|Ἡράκλειτος ἐπιτιμᾷ τῷ ποιήσαντι ›ὡς ἔρις ἔκ τε θεῶν καὶ ἀνθρώπων ἀπόλοιτο‹}}); Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 451.</ref>
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| == Rezeption ==
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| Im Laufe ihrer [[Kulturelle Rezeption|Rezeptionsgeschichte]] wurden die Gedanken Heraklits nicht bloß überliefert, sondern häufig auch von denen, die sich auf ihn beriefen, für eigene philosophische oder theologische Zwecke herangezogen, umgedeutet und dadurch verzerrt.<ref name="Pleines9">Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 9. Daher versteht Held seinen eigenen Interpretationsansatz als Gegenentwurf zu den „beliebten ‚tiefsinnigen’ Spekulationen“, bei denen die Heraklit-Fragmente nur „als Reizworte für eigene Einfälle“ herhielten; Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 110.</ref> Manche späteren Denker betonten einseitig einen speziellen Aspekt seiner Lehre, um ihn so zum Vorläufer ihrer eigenen Philosophie zu machen. So gilt Heraklit seit [[Platon]] als Vertreter eines eigenständigen philosophischen Systems, das alle Phänomene auf einen steten Wandel reduziere und als neue Errungenschaft ein Prinzip postuliere, welches unterschiedlichste Gegensätze vereine. Er stehe für die Idee eines vernunftbegabten Feuers als Ursprung aller Dinge. Man sieht ihn als ersten europäischen Philosophen an, der von physikalischen Theorien auf [[Metaphysik|metaphysische]], [[Erkenntnistheorie|epistemologische]] und [[Ontologie|ontologische]] Sachverhalte geschlossen und in allem seine Theorie der dauernden Spannung von Gegensätzen zur Geltung gebracht habe.<ref>Als hinderlich auf der Suche nach dem historischen Heraklit bezeichnet Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 36, ganz im Stile Gadamers, vor allem jene Interpretationen, „die den Logos bei Heraklit entweder mit dem Absoluten gleichsetzten oder ihn weltgeschichtlich mediatisierten. […] In all diesen Fällen kommt es deshalb im Rückblick darauf an, die späteren Überlagerungen sorgfältig wieder abzutragen, um den Gedanken auf seine anfängliche Bedeutung zurückzuführen. Erst danach macht es Sinn, ihn auf die typisch neuzeitlichen Gegenstände und Formen des Wissens zu übertragen.“</ref>
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| === Antike und Mittelalter ===
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| Für den Ruf des „Dunklen“, den Heraklit bereits in der Antike besaß, steht als erster Anhaltspunkt eine Äußerung des [[Sokrates]] bei Diogenes Laertios. Zu seinen Heraklit-Studien befragt, soll Sokrates geantwortet haben: „Was ich verstanden habe, ist ausgezeichnet – ich glaube<!--sic--> auch das, was ich nicht verstanden habe, jedoch bedürfte es dazu eines delischen Tauchers“.<ref>Diogenes Laertios 2,22; Übersetzung nach Christof Rapp: ''Vorsokratiker'', München 1997, S. 61. Zu dieser Anekdote und ihrer Überlieferung siehe Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'', Bd. III.1, Sankt Augustin 2003, S. 77 f. und Bd. II.A.1, Sankt Augustin 1999, S. 9, 178 f.</ref> Damit meinte er besonders geübte Taucher der Insel [[Delos]] und spielte zugleich auf das dortige [[Orakel]] des [[Apollon]] an. Die Deutungsprobleme, die Heraklit aufwirft, ergeben sich also nicht allein aus der fragmentarisch-ungeordneten Überlieferungssituation der Neuzeit, sondern bestanden bereits in der Antike, als Heraklits Werk als eine von wenigen vorsokratischen Schriften wenigstens bis in die mittlere [[Römische Kaiserzeit|Kaiserzeit]] im Original zugänglich war.<ref>Uvo Hölscher: ''Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit''. In: ''Neue Hefte für Philosophie'' 15/16, 1979, S. 156–182, hier: 156.</ref>
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| Die Umdeutung und Einbeziehung heraklitischer Elemente in eigenes philosophisches Gedankengut setzt bereits bei [[Platon]] und [[Aristoteles]] ein. Während Aristoteles in Heraklit einen Vorläufer seiner [[Metaphysik]] sah, nahm Platon ihn für die Vorgeschichte seiner [[Ideenlehre]] in Anspruch<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 9.</ref> und charakterisierte Heraklits Denken als ein auf ewiges Werden und Fließen gerichtetes,<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 10 merkt dazu an: „Ebenso verdächtig erscheint die Berufung auf Heraklit, wenn umgekehrt die Gegensätzlichkeit und Bewegtheit der unterschiedlich seienden Dinge begrifflich abgestuft wurden, um sie auf der höchsten Stufe einer letzten unbewegten sowie differenz- und gegensatzlosen Einheit formal zusammenzufassen.“</ref> womit eine Deutungstradition begründet wurde, die noch bei [[Nietzsche]] nachklingt:
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| {{Zitat|Heraklit sagt doch, dass alles davon geht und nichts bleibt, und indem er alles Seiende einem strömenden Flusse vergleicht, sagt er, man könne nicht zweimal in denselbigen Fluß steigen.|Platon|Kratylos 402a}}
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| Der erste Teil dieses Zitats aus Platons [[Platonischer Dialog|Dialog]] ''[[Kratylos]]'' gilt als unecht. Der zweite Abschnitt ist entweder eine platonische Umdeutung oder basiert auf einem anderweitig nicht bezeugten Spruch.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 326 f.</ref>
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| Im ''Kratylos'' werden zudem Philosophen erwähnt, die „mit Heraklit geglaubt haben, alles Seiende gehe, und es bleibe nichts fest.“<ref>Platon, ''Kratylos'' 401d.</ref> Ähnlich spricht Platon im ''[[Theaitetos]]'' von „Freunden des Heraklit“ oder „Herakliteern“;<ref>Platon, ''Theaitetos'' 179d.</ref> jedoch ist kaum glaubhaft, dass es sich hierbei um einen Schülerkreis im engeren Sinne gehandelt hat.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 10; Margot Fleischer: ''Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios'', Würzburg 2001, S. 121.</ref>
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| In der römischen Kaiserzeit wurde Heraklit oft erwähnt und zitiert, wobei sich Authentisches mit Erfundenem mischte. Mehrere fingierte Briefe von ihm und an ihn, die sich damals im Umlauf befanden, lassen erkennen, dass [[Kynismus|Kyniker]] versuchten, aus ihm einen Vorläufer ihrer Richtung zu machen.<ref>Die Briefe des Pseudo-Heraklit sind herausgegeben von Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'', Bd. II.A.2, Sankt Augustin 2000, S. 274–309.</ref> Stoiker wie [[Seneca]], [[Pythagoreer|Neupythagoreer]], Platoniker (besonders [[Plutarch]]) und der frühe [[Kirchenvater]] [[Clemens von Alexandria]] beriefen sich auf ihn.<ref>Die Belege sind gesammelt bei Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'' II.A.2, Sankt Augustin 2000, S. 259 ff.</ref> Da es keine einheitliche Traditionslinie oder Schule Heraklits gab, konnten unterschiedliche Strömungen ihn für ihre Anliegen in Anspruch nehmen, doch entstand aus derartigen einzelnen Rückgriffen keine Kontinuität.<ref>Uvo Hölscher: ''Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit''. In: ''Neue Hefte für Philosophie'' 15/16, 1979, S. 156–182, hier: 156.</ref> [[Lukian von Samosata]] sah Heraklit als „weinenden Philosophen“, der die Torheit der Menschen beklagt habe, im Gegensatz zu [[Demokrit]] als dem über die menschliche Ignoranz „lachenden Philosophen“.<ref>Die Belege zu Lukians Heraklit-Rezeption hat Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'' II.A.2, Sankt Augustin 2000, S. 450–452 zusammengestellt.</ref> Der [[Skeptizismus|Skeptiker]] [[Sextus Empiricus]] kritisierte Heraklit und warf ihm „dogmatische“ Aussagen vor.<ref>Die einschlägigen Stellen stehen bei Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'' II.A.2, Sankt Augustin 2000, S. 570–584.</ref>
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| Im Mittelalter kannte man nur noch einzelne Legenden und Fragmente. Während man im [[Byzantinisches Reich|Byzantinischen Reich]] gerne das wenige, was man von Heraklit wusste, zitierte, insbesondere in [[Scholion|Scholien]] zu Werken antiker Autoren,<ref>Die Belege sind zusammengestellt bei Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'', Bd. II.A.4, Sankt Augustin 2003, S. 797–891.</ref> war er der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Westens jahrhundertelang so gut wie unbekannt; erst im 12. Jahrhundert taucht bei [[Bernardus Silvestris]] ein Heraklit-Zitat auf.<ref>In seinem Kommentar zu Martianus Capella 5,150–165.</ref> Im 13. Jahrhundert begannen sich jedoch die [[Scholastik|scholastischen]] Gelehrten für ihn zu interessieren; [[Albertus Magnus]] und [[Thomas von Aquin]] verfügten bereits über einige Kenntnis heraklitischer Ideen und setzten sich damit auseinander.<ref>Die Stellen sind bei Serge N. Mouraviev: ''Heraclitea'' II.A.4, Sankt Augustin 2003 zusammengestellt, S. 894–922 für Albertus Magnus, S. 924–936 für Thomas von Aquin.</ref> Ferner erwähnte [[Dante]] Heraklit zusammen mit anderen antiken Philosophen in der ''[[Divina commedia]]''.<ref>Dante, ''Divina commedia'', ''Inferno'' IV,138.</ref>
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| Im 15. Jahrhundert entwickelte [[Nikolaus von Kues]] die theologische und erkenntnistheoretische Formel der ''[[coincidentia oppositorum]]'', des Zusammenfalls der Gegensätze, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Gegensatzdenken Heraklits oft mit diesem in Zusammenhang gebracht wird. Nikolaus erwähnt jedoch Heraklit nicht, und für die Vermutung, dass er von ihm beeinflusst sei, gibt es kein konkretes Indiz.<ref>[[Peter Kampits]]: ''Heraklit und Nicolaus Cusanus''. In: ''Atti del Symposium Heracliteum 1981'', Bd. 2, hrsg. von Livio Rossetti, Roma 1984, S. 11–18, hier: 18.</ref>
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| === Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert ===
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| Indirekt fand heraklitisches Gedankengut Aufnahme in den [[Deutscher Idealismus|Deutschen Idealismus]], zumeist gestützt auf erste Versuche einer Sammlung der Fragmente, wie beispielsweise die ''Poesis philosophica'' des [[Henricus Stephanus]] von 1573, nach der auch noch [[Hegel]] Heraklit zitierte.<ref>Uvo Hölscher: ''Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit''. In: ''Neue Hefte für Philosophie'' 15/16, 1979, S. 156–182, hier: 157.</ref> Den von [[Lessing]] in Bezug auf [[Spinoza]]s Philosophie geprägten Begriff des [[Alleinheit|{{lang|grc|Ἕν καὶ Πᾶν}}]] (''{{lang|grc-Latn|hén kaì pân}}'', etwa: „Eins und Alles“), übernahm [[Hölderlin]] als Ausdruck des [[Pantheismus]]. In der letzten Fassung des ''[[Hyperion (Hölderlin)|Hyperion]]'' formulierte er das Ineinander komplementärer Gegensätze „als simultane Verbundenheit des Widerstreitenden“. Dabei berief er sich auf „das große Wort, das {{lang|grc|ἑν διαφερον ἑαυτῳ}}, das Eine in sich selber unterschiedne, des Heraklit“<ref>Hölderlin: ''Hyperion'' I 2, 3. Brief (Kleine Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3, S. 55) und letzter Brief (S. 85).</ref>: „Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles.“<ref>Zitiert nach Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 73.</ref> Die seit Platon gängige Interpretation Heraklits als eines Denkers, der hauptsächlich das Werden und den Prozess der Veränderung thematisierte, wirkte auch bei Hegel und [[Nietzsche]] im 19. Jahrhundert nach. So sah Hegel in Heraklit den Protagonisten eines in der Hegelschen [[Dialektik]] gründenden Bewegungsgesetzes und bekannte: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“<ref>Zitiert nach Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 110.</ref>
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| Zugleich erschienen neue Textausgaben. So publizierte [[Friedrich Schleiermacher]] 1808 seine damals wegen ihrer Vollständigkeit geschätzte Arbeit ''Herakleitos der dunkle'', die 73 Fragmente enthält. Er bemühte sich darum, Heraklits Philosophie „aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten“<ref>Friedrich Schleiermacher: ''Herakleitos der dunkle [...]''. In: Schleiermacher: ''Kritische Gesamtausgabe'', Abteilung 1, Bd. 6, Berlin 1998, S. 101–241, hier: 105.</ref> zu rekonstruieren, und gab das Ermittelte heraus, „soviel man davon wissen und nachweisen kann“.<ref>So Schleiermacher in einem Brief (Berlin, 8. März 1808), zitiert nach Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 25.</ref>
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| Auch bei [[Goethe]] spiegelt sich von der Zeit des [[Die Leiden des jungen Werthers|Werther]] bis in die Spätzeit der Einfluss Heraklits wider. Sprachlich äußert er sich in metaphorischem Umgang mit dem Gegensatzprinzip in [[Oxymoron|Oxymora]] wie „fern und nah“, „lebeloses Leben“ oder „geeinte Zwienatur“.<ref>Dorothea Lohmeyer: ''Faust und die Welt'', München 1975, S. 26; Uvo Hölscher: ''Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit''. In: ''Neue Hefte für Philosophie'' 15/16, 1979, S. 156–182, hier: 161.</ref> Inhaltlich nähert sich Goethe Heraklit vor allem in dem Bestreben, Naturbildungen als Phänomene zu begreifen, die auf eine verborgene Gesetzlichkeit verweisen. Auch in der Vereinigung konstruktiver wie destruktiver Elemente seines Naturbildes lässt Goethe Werther Gedanken formulieren, die an die Flussfragmente erinnern:<ref>Uvo Hölscher: ''Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit''. In: ''Neue Hefte für Philosophie'' 15/16, 1979, S. 156–182, hier: 160.</ref>
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| {{Zitat|Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht? da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, […] in den Strom fortgerissen […] wird? […] Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.|ref=<ref>Goethe: ''Die Leiden des jungen Werthers'', I. Buch, 18. August, Jubiläumsausgabe Bd. 16, S. 58 f.</ref>}}
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| [[Friedrich Nietzsche|Nietzsche]] meinte in Heraklit einen „Vorfahren“<ref>Friedrich Nietzsche: ''Nachgelassene Fragmente 1884–1885'' (= ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 11), 2. Auflage, Berlin 1988, S. 134 (Fragment 25[454]).</ref> zu erkennen, „in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst“ und dessen Gedankengut er als „das mir Verwandteste“ anerkannte, „was bisher gedacht worden ist.“<ref>Friedrich Nietzsche: ''Ecce homo''. In: Nietzsche: ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 6, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1988, S. 255–374, hier: 312 f.</ref> In einem geplanten ''Philosophenbuch'', dessen tatsächlich realisierte Passagen er in das Fragment ''[[Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen]]'' übernimmt, zeigt Nietzsche gerade zur Persönlichkeit Heraklits<ref>Friedrich Nietzsche: ''Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen''. In: Nietzsche: ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 1, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1988, S. 799–872, hier: 834: „Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie aufsuchen. […] Von dem Gefühl der Einsamkeit aber, das den ephesischen Einsiedler des Artemis-Tempels durchdrang, kann man nur in der wildesten Gebirgsöde erstarrend etwas ahnen. […] Er ist ein Gestirn ohne Atmosphäre. Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn, unmittelbar an die Feste seines Stolzes, schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit: mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mit fühlender Brust weichen einer solchen wie aus Erz gegossenen Larve aus; in einem abgelegenen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter, ruhig-erhabener Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen. Unter Menschen war Heraklit, als Mensch, unglaublich.“</ref> eine Nähe, die besonders in der Schrift ''[[Also sprach Zarathustra|Zarathustra]]'' in eine Identifikation mündet.<ref>Uvo Hölscher: ''Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit''. In: ''Neue Hefte für Philosophie'' 15/16, 1979, S. 156–182, hier: 164.</ref> Nietzsche identifiziert sich mit dem Protagonisten Zarathustra, dessen Persönlichkeit und Auftreten stark unter dem Einfluss Heraklits steht. Im ''Zarathustra'' greift er zahlreiche Motive Heraklits auf; keine andere Quelle schöpft er dort so intensiv aus wie diese. In der Wahl der Metaphern sind deutliche Parallelen erkennbar, beispielsweise in der Lehre vom [[Übermensch]]en, die analog zur Affe-Mensch-Gott-Proportion der heraklitischen Fragmente entwickelt wird:
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| {{Zitat|Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.|ref=<ref>Friedrich Nietzsche: ''Also sprach Zarathustra'', Teil 1. In: Nietzsche: ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 4, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1988, S. 9–102, hier: 14.</ref>}}
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| Philosophiehistorisch ist Nietzsche der gängigen Meinung der [[Philologie]] seiner Zeit verhaftet, die Heraklit in platonischer Tradition als Philosophen des Werdens, der periodischen Weltuntergänge und des Kampfes der Gegensätze interpretierte. „Im Zuge der Umwertung und Umstülpung der unter platonischem Vorzeichen stehenden Metaphysik“ stellt Nietzsches [[Hermeneutik]] „das Werden über das starre, einer fundamentalen Illusion entspringende Sein“ und sieht „Heraklit als die Vorweg-Widerlegung Platons“ an.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 110.</ref> Zugleich rezipiert Nietzsche die von Platons Einfluss umgestaltete Flusslehre und verbindet sie mit der aus anderen antiken Traditionen stammenden Idee der [[Ewige Wiederkunft|ewigen Wiederkunft]] des Gleichen, die ihm heraklitisch erscheint und die er mit der Lehre seines Zarathustra<ref>Friedrich Nietzsche: ''Ecce homo''. In: Nietzsche: ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 6, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1988, S. 255–374, hier: 313: „diese Lehre Zarathustra’s ''könnte'' zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein.“</ref> in Einklang zu bringen versucht.<ref>Dieter Bremer: ''Heraklit''. In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike'', Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 75.</ref> Nach Nietzsches Interpretation verleugnet der heraklitische Begriff des Werdens die „eigentliche Existenz“ des [[Sein|Seienden]]; die Dinge sind lediglich „das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs, im Kampf der entgegengesetzten Qualitäten.“<ref>Friedrich Nietzsche: ''Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen''. In: Nietzsche: ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 1, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1988, S. 799–872, hier: 826.</ref> So lässt er Heraklit ausrufen:
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| {{Zitat|Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.|ref=<ref>Friedrich Nietzsche: ''Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen''. In: Nietzsche: ''Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe'' (KSA), Bd. 1, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1988, S. 799–872, hier: 823.</ref>}}
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| Heraklits Bedeutung als Impulsgeber der Philosophiegeschichte betonten Hegel und Nietzsche aus unterschiedlicher Perspektive. So erscheint Heraklit bei Hegel „als der früheste Vorläufer der gegenwärtig erreichten, abschließenden höchsten Vollendung des Denkens“, bei Nietzsche jedoch „als der früheste Vorbote seiner tiefsten Krise; die Vollendung beruht auf dem vollständigen Erscheinen des von Heraklit ahnungsweise Angedeuteten, die Krise auf seiner vollständigen Vergessenheit im gegenwärtigen Zeitalter.“<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 114.</ref>
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| === 20. und 21. Jahrhundert ===
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| ==== Martin Heidegger ====
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| [[Martin Heidegger]] studierte Heraklit intensiv und stellte ihn in den Zusammenhang seiner eigenen Philosophie.<ref>Martin Heidegger: ''Logos (Heraklit, Fragment 50)'' und ''Aletheia (Heraklit, Fragment 16)''. In: Heidegger: ''Vorträge und Aufsätze'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 7), Frankfurt am Main 2000, S. 211–234, 263–288; ''Heraklit'', [Ober-]Seminar [mit Eugen Fink], Wintersemester 1966/1967. In: Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 15, Frankfurt a. M. 1986, S. 9–263; ''Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos'', Freiburger Vorlesung Sommersemester 1943 und Sommersemester 1944 (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 55), Frankfurt am Main 1979; ''Aus den Aufzeichnungen zu dem mit Eugen Fink veranstalteten Heraklit-Seminar''. In: ''Heidegger Studies'' 13, 1997, S. 9–14.</ref> In den 1930er Jahren bestimmte Heidegger „Logik“ im Sinne des Logos-Begriffs Heraklits,<ref>[[Peter Trawny]]: ''Martin Heidegger'', Frankfurt 2003, S. 119 f. Heidegger hat dem Thema einen eigenen Aufsatz gewidmet: ''Logos (Heraklit, Fragment 50)''. In: Heidegger: ''Vorträge und Aufsätze'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 7), Frankfurt am Main 2000, S. 211–234; Heraklits Logos meint für Heidegger „das entbergend-bergende Versammeln“; Martin Heidegger: ''Nietzsche'', Bd. 2, Pfullingen 1961, S. 463.</ref> der „das Sein des Seienden“ bezeichne.<ref>Martin Heidegger: ''Metaphysik und Nihilismus'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 67), Frankfurt am Main 1999, S. 135.</ref> Heidegger führt seinen Begriff von Wahrheit als ''alétheia'' (Unverborgenheit) auf Heraklit zurück und sieht die diesem Wort entspringende „Grunderfahrung“ bei Platon bereits „im Schwinden“.<ref>Martin Heidegger: ''Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 34), Frankfurt am Main 1988, S. 93. Auch dem Begriff ''aletheia'' widmet Heidegger einen Aufsatz: ''Aletheia (Heraklit, Fragment 16)''. In: Heidegger: ''Vorträge und Aufsätze'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 7), Frankfurt am Main 2000, S. 263–288.</ref> Für Heidegger „gab es vor Sokrates noch keine Metaphysik; das Denken des Heraklit und Parmenides ist ‚Physik‘ im Sinne eines Erdenkens des Wesens der physis als des Seins des Seienden“.<ref>Martin Heidegger: ''Metaphysik und Nihilismus'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 67), Frankfurt am Main 1999, S. 89.</ref> Heidegger wendet sich gegen „die auch von Nietzsche selbst in Umlauf gebrachte“ Interpretationshypothese, „das Sein ‚sei‘ das ‚Werden‘“.<ref>So u. a. in Martin Heidegger: ''Metaphysik und Nihilismus'' (= Heidegger: ''Gesamtausgabe'' Bd. 67), Frankfurt am Main 1999, S. 96.</ref> In seiner Heraklit-Deutung wollte Heidegger über den Dualismus von Werden und Sein hinausgelangen.<ref name="Held113">Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 113.</ref> Demnach beruht seine Heraklit-Rezeption wesentlich auf der Logos-Interpretation als einer Auslegung der ''phýsis'': „Im ursprünglichen Gebrauch des Wortes ''phýsis'' ist nach Heidegger noch etwas von dem Verhältnis zu hören, das in dem Wort ''a-létheia'', Un-verborgenheit, von den Griechen zwar benannt, aber nicht eigens bedacht wurde.“ Die Entbergung des Verborgenen ist somit Heraklits Leistung, die er ja auch selbst beanspruchte. Heidegger war der Meinung, dass „der Beginn der Denkgeschichte mehr war als ein später überholter Ausgangspunkt, nämlich der Anfang als [[arché]], d. h. als stiftender und damit bleibender Anfangsgrund“. In Heraklits Aussage (B 123), dass die Natur sich gern verbirgt<ref>DK 22 B 123 ({{lang|grc|φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ}}).</ref>, sei das Entwicklungsgesetz des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens bereits enthalten. Dies begründe die einzigartige Position Heraklits: „Sein Denken hat eine ‚Sache‘ zum Thema, deren Verfassung zugleich das gesamte geschichtliche Schicksal des Denkens überhaupt prägt.“<ref name="Held113" />
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| ==== Erich Fromm ====
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| Der Psychoanalytiker [[Erich Fromm]] analysierte 1956 in ''[[Die Kunst des Liebens]]'' Positionen Heraklits, dessen [[paradoxe Logik]] er als Alternative zur aristotelischen [[Satz vom Widerspruch|widerspruchsfreien Logik]] betrachtete. Er zog auch einen Vergleich mit der Lehre [[Zhuangzi]]s.<ref>Erich Fromm: ''Die Kunst des Liebens'', Ulm 2007, S. 88.</ref>
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| ==== Hans-Georg Gadamer ====
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| Das Spektrum der modernen Heraklit-Deutungen ist weit. In der deutschsprachigen Literatur gehört diejenige [[Hans-Georg Gadamer]]s zu den profiliertesten. Für ihn stehen Denken und Werk Heraklits entschieden nicht in der Tradition der [[Ionische Naturphilosophie|Ionischen Naturphilosophie]].<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 78.</ref> Gadamer weist darauf hin, dass schon in der Antike die Deutung vorgeschlagen wurde, dass Heraklits Schrift weniger auf die Natur und die kosmologischen Zusammenhänge ziele als vielmehr auf den Bürgerverband, auf die ''politeia'' und ihre mentale Ausrichtung.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 19.</ref> Diese Auffassung stützt sich auf die Beobachtung, dass Heraklits naturbezogene Aussagen oft so naiv wirken, dass ihnen nicht die hauptsächliche Bedeutung zuzukommen scheint. So urteilte schon der Grammatiker Diodot, der diesen Äußerungen Heraklits lediglich einen paradigmatischen, beispielhaft veranschaulichenden Charakter zuwies und die Verfassung des Staates für das eigentliche Thema seiner Schrift hielt.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 33 Anm. 1.</ref>
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| Als Ausgangspunkt seiner Interpretation wählt Gadamer die Formel „Eins ist das Weise“ ({{lang|grc|ἓν τὸ σοφὸν|hen to sophón}}), denn er deutet das Bestreben, Unterschiedliches in einer Einheit zu denken, als die in mehreren Fragmenten wiederholte zentrale Botschaft Heraklits.<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 56 verweist auf B 32 ({{lang|grc|ἓν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα}}), B 41 ({{lang|grc|εἶναι γὰρ ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων}}) und B 50 ({{lang|grc|οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι}}).</ref> Für das Gegensatzpaar „wachen und schlafen“ stellt das Individuum selbst als Wachender oder Schlafender das Eine bzw. den Einen dar, der „am Leben ist“. In Fragment B 26 wird dieses Einssein mit dem Feuer verbunden: „Der Mensch in der Nacht zündet sich ein Licht an, wenn die Augen erloschen sind. Lebend rührt er an den Toten, erwacht rührt er an den Schlafenden.“<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 85 ({{lang|grc|ἄνθρωπος ἐν εὐφρόνῃ φάος ἅπτεται ἑαυτῷ ἀποσβεσθεὶς ὄψεις. ζῶν δὲ ἅπτεται τεθνεῶτος εὕδων, ἐγρηγορὼς ἅπτεται εὕδοντος}}).</ref> Dieses Anzünden des Lichts in der Nacht interpretiert Gadamer als ein Erwachen des [[Bewusstsein]]s, wenn man die „volle Aussagekraft“ des Logos darin sieht, dass „nicht das Licht des Traumes, sondern die Helligkeit, die wir ‚Bewusstsein’ nennen, hier gemeint ist“. Dieses Entfachen des Vernunftfeuers als „Zu-sich-Kommen“ des Bewusstseins ist nach Gadamer kein rein individueller Vorgang, sondern ein kollektiver „Weg zur Teilhabe am gemeinsamen Tage und der gemeinsamen Welt.“<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens'', Stuttgart 1999, S. 89.</ref>
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| ==== Klaus Held ====
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| Die Gegenüberstellung von Ansicht und [[Einsicht]] als „kritische Selbstunterscheidung des Denkens von der vor- und außerphilosophischen Denk- und Verhaltensart“ ist für [[Klaus Held]] „der Grundgedanke Heraklits, von dem her sich alle seine weiteren Gedanken entfalten lassen“<ref name="Held 1980, S. 130" /> und der „im Wesen seiner Auffassung vom Denken begründet“ ist.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 341.</ref> Als philosophiegeschichtlichen Standort Heraklits bestimmt er eine Mittelposition zwischen dem vorphilosophischen Denken des [[Archaik|archaischen]] Griechentums einerseits, wie es in manchen Fragmenten wie B 24 und B 25 mit der Behandlung von Tod und Ehre nachhalle,<ref>DK 22 B 24: „Im Kriege Gefallene ehren Götter und Menschen“; B 25: „Größerer Tod empfängt größere Belohnung.“</ref> und dem metaphysischen Denken Platons andererseits, bei dem der Mensch über seine unsterbliche Seele Anteil an der Ewigkeit der [[Idee]]n erlangen kann.<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 432.</ref>
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| Ein spezifisches Moment der [[Phänomenologie|phänomenologischen]] Heraklit-Interpretation Helds liegt in der Verknüpfung mit der von [[Edmund Husserl|Husserl]] und [[Martin Heidegger|Heidegger]] philosophisch reflektierten subjektiven lebensweltlichen Zeiterfahrung. Den Ansatzpunkt dafür bei Heraklit bilde das Umschlagen (μεταπίπτειν) der Gegensätze. Eine Erwartung oder Erinnerung habe selbst den Charakter der Gegenwart, der noch ausstehenden oder der schon entschwundenen: „Es ist die Erfahrung von der einen und einzigen Gegenwart, in der beständig verbleibend ich alle meine Erfahrungen mache. Zu der Weise, wie ich mir dieser Gegenwart bewusst bin, gehört immer ein unthematisches Miterfassen des Kommens und Gehens der Gegenwart.“<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 320; in der zugehörigen Anmerkung 73 vermerkt Held: „Ich spiele hier auf Husserls Entdeckung des Präsenzfeldes mit Retention und Protention an.“ Auf S. 323 führt Held aus: „Dieses Kommen und Gehen kann aber nicht Ankunft und Weggang einer ungegenwärtigen Gegenwart sein, die von der einen übergängigen Gegenwart unterschieden wäre; denn Unterscheidung von anderen Gegenwarten würde Auflösung ihrer Einzigkeit bedeuten. Demnach kann das reine Kommen und Gehen nur Ankunft und Weggang der einen Gegenwart selbst sein. Das aber ist nur möglich, wenn die Gegenwart von sich selbst unterschieden wird. Nun ist die beständige Gegenwart, wie sich herausgestellt hat, Helle. Als von sich Unterschiedene muß sie demnach Dunkel sein.“</ref>
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| Als weiteren Schwerpunkt der heraklitischen Lehre nennt Held die Auseinandersetzung mit dem „lebensverfallene(n) und todesvergessene(n) Verhalten der Vielen“. Das Leben als Verlauf zwischen Geburt und Tod sei nicht nur von diesen zeitlichen Grenzen bestimmt, sondern „in jeder seiner Phasen gebürtig und sterblich“. Wachen und Schlafen, Jugend und Alter stellten über das landläufige Verständnis hinaus „Abwandlungen derjenigen beiden Grundweisen des Lebend-sich-Befindens dar, die bereits durch die Ausdrücke ‚Leben’ und ‚Tod’ bezeichnet werden. […] Alle drei Gegensatzpaare variieren den Grundgegensatz des Erneuernd-sich-Öffnens und des Absterbend-sich-Verschließens.“<ref>Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', Berlin 1980, S. 281.</ref>
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| ==== Jürgen-Eckardt Pleines ====
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| Im Gegensatz zu Held betrachtet [[Jürgen-Eckardt Pleines]] den heraklitischen Logos nicht als nur für eine Elite erkennbar, sondern betont, dass ein allgemein zugängliches Wissen gemeint sei.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 13; S. 33: „Da Heraklit seine eigenen Nachforschungen keineswegs als genialische Leistung, sondern weit eher als Beitrag zu einem jederzeit möglichen gemeinsamen Wissen und Wollen verstand, ist der heutige Interpret gehalten, auch dessen Bezüge zum Geist jener Zeit, zur gemeinsamen Vernunft, ernstzunehmen.“ Dabei verweist Pleines auch auf [[Sextus Empiricus]] und [[Mark Aurel]], die Heraklits Berufung „auf das ideell Verbindende, auf das Gemeinschaftliche und Verpflichtende im ''logos''“ hervorhoben.</ref> Historisch sieht Pleines in der Konzeption Heraklits Parallelen zur modernen [[Spieltheorie]].<ref name="PLE90">Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 90: „Denn die Zuordnung, die aus einem freien Spiel von Kräften oder Vermögen erwächst, lebt von einer Gesetzlichkeit, die an einen Vollzug gebunden ist, in dem Zufall und Notwendigkeit zusammenwirken.“</ref>
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| Pleines geht in seiner Interpretation vom Begriff der [[Harmonie]] aus, der bei Heraklit das „wechselseitige Verhältnis […] an sich selbstständiger und entgegengesetzter Momente, die sich in einem ausbalancierten, aber ebenso [[Ambivalenz|ambivalenten]] Gleichgewicht“ halten, bezeichne.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 182.</ref> Harmonie beschreibe somit bei Heraklit das ausgewogene Verhältnis von konträren Kräften in einem ständigen Widerstreit ''(eris)'' der Dinge. Diesem „relationalen Seinsverständnis“ entspreche auch die Spanne zwischen beiden Polen, „der ''harmos'', der als ‚Fuge’ genauso wie der ''logos'' eine verbindende Gegenbewegung in der Sache wie im Denken signalisierte“.<ref name="PLE120">Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 120.</ref> Demgemäß galt das Augenmerk des Philosophen besonders Aussagen über Objekte oder Phänomene, die Kennzeichen ihrer gegenseitigen Beziehung und Gegensätzlichkeit aufweisen und über diese vermittelnde Differenz, bei Pleines „Intervall“ genannt, definiert werden.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 181.</ref> Für das Verständnis von Harmonie als Ausdruck innerer Spannung verweist Pleines auf die Welt des Klangs. Töne können stets als untereinander differenziert wahrgenommen werden, doch eine in ihre Einzelbestandteile aufgelöste Melodie ist nicht mehr als solche erkennbar.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 201 f. weist darauf hin, dass das Hören von Tönen und das Erkennen distinkter, aber miteinander verbundener Tonfolgen nur möglich war, „solange die verschiedenen Töne nicht unterschiedslos in einen einzigen, unartikulierten Laut zurückfielen, sich aber auf der anderen Seite auch nicht aus der Melodie ins Grenzenlose isolierter Einzelnheit verflüchtigten“. Schnittpunkt in der Wahrnehmung aber sei der ''kairos'', jener Moment, „in dem das Grenzenlose begrenzt und das Begrenzte von den Fesseln der starren Regeln befreit wurde“.</ref> Diese Auffassung der Tonkunst als Widerstreit von Momenten innerhalb eines dem Wandel unterworfenen Gefüges sei von Heraklit auf alles vernunftgemäße Wissen übertragen worden.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 202.</ref>
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| Heraklits Denkart habe nicht nur mit den herkömmlichen Schöpfungsvorstellungen gebrochen, sondern „widersetzte sich auch jenen Erklärungsversuchen der Welt, die allein mit einer Folge von Zeitmomenten rechneten, um mit ihrer Hilfe Kausalgesetze oder Finalreihen zu formulieren“.<ref name="PLE120" /> Die bereits bei Anaximander angelegte Neuorientierung des Denkens habe zu einer Abkehr von der Suche nach einem [[Arché|Urelement]] geführt und in der Metaphysik das Augenmerk auf das Problem der [[Relation|Verhältnisse]] unter den Objekten gelenkt.<ref>Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'', Hildesheim 2002, S. 121, 180.</ref>
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| ==== Deutungen der Lehre Heraklits vom Krieg und Streit ====
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| Die Thesen Heraklits, der Krieg sei „Vater“ und „König“ aller und alles geschehe auf rechte Weise „gemäß dem Streit“, sind in der Forschung unterschiedlich gedeutet worden. Olof Gigon bezog in seiner 1935 veröffentlichten Basler Dissertation diese Aussagen konkret auf militärische Auseinandersetzungen; es gehe um Verherrlichung des Heldentums. Für Heraklit habe der Krieg Bewegung – im Gegensatz zu der von Homer gewünschten Ruhe – bedeutet. „Das wahre Leben ist das Hin und Her und Durcheinander des Krieges, das andere ist nur Wahn, es zu wünschen verhängnisvollste Torheit, da man damit die Zersetzung, das Verderben wünscht.“<ref>Olof Gigon: ''Untersuchungen zu Heraklit'', Leipzig 1935, S. 118–120.</ref> Auch [[William Keith Chambers Guthrie|William K. C. Guthrie]] hob den Gegensatz zwischen Ruhe und Bewegung hervor. Heraklit habe Ruhe mit dem Ende der Anstrengung, die sich im beständigen Kampf der Gegensätze zeige, mit Tod und Zerfall verbunden. Daher habe er gemeint, das Ausruhen im Frieden solle man den Toten überlassen. Aus dieser Sicht habe er gegen das Ideal einer friedlichen und harmonischen Welt rebelliert, das er als wirklichkeitsfremde Verkennung des Weltcharakters betrachtet habe.<ref>William K. C. Guthrie: ''A History of Greek Philosophy'', Bd. 1, Cambridge 1962, S. 446–449.</ref> [[Karl Popper]] fasste den „Krieg“ ebenso wie Gigon im wörtlichen Sinne auf. Er meinte, Heraklit habe als „typischer [[Historizismus|Historizist]]“ „im Urteil der Geschichte ein moralisches Urteil“ gesehen; daher habe er behauptet, dass „das Ergebnis des Krieges immer gerecht sei“. Er habe einen ethischen [[Relativismus]] vertreten, was ihn jedoch nicht gehindert habe, „eine romantische Stammesethik“ zu entwerfen und die „Überlegenheit des großen Mannes“ zu verkünden.<ref>Karl Popper: ''Die offene Gesellschaft und ihre Feinde'', Bd. 1, 7., überarbeitete Auflage, Tübingen 1992, S. 22 f.</ref>
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| Die Alternative zu einer [[Militarismus|militaristischen]] Auslegung ist die kosmische, naturphilosophische Deutung von Heraklits „Krieg“. Sie hat in der Forschung zahlreiche Befürworter gefunden. Nach dem Verständnis von [[Hermann Fränkel]] ist mit dem „Krieg“ die Kraft gemeint, die alles erzeugt und verordnet, und das ist die Gegensätzlichkeit an sich. Für diese habe Heraklits Sprache kein Wort gehabt, daher habe er den Ausdruck „Krieg“ gewählt.<ref>Hermann Fränkel: ''Wege und Formen frühgriechischen Denkens'', 3., durchgesehene Auflage, München 1968, S. 270.</ref> [[Gregory Vlastos]] hielt Heraklits Aussagen über Krieg und Streit für dessen Antwort auf die Lehre Anaximanders, der Streit mit Ungerechtigkeit assoziiert und die Gerechtigkeit mit der Beseitigung des vom Streit erzeugten Unrechts gleichgesetzt hatte. Anaximander hatte gemeint, es gebe ''trotz'' der Konflikte eine gerechte Ordnung. Ein solches Nebeneinander von Recht und Unrecht sei für Heraklit ein unannehmbarer „Kompromiss“ gewesen. Sein einheitliches Verständnis der Natur habe ihn zwangsläufig zur Annahme geführt, dass alles entweder gerecht oder ungerecht sein müsse. Daher habe er den Streit, den er für ein universelles Prinzip hielt, im Gegensatz zu Anaximander positiv bewertet und mit der Gerechtigkeit gleichgesetzt.<ref>Gregory Vlastos: ''On Heraclitus.'' In: ''American Journal of Philology'' 76, 1955, S. 337–368, hier: 356 f.</ref> Auch für Charles H. Kahn ist Heraklits Sichtweise eine Frucht seines monistischen Weltbilds. Seine Polemik richte sich gegen die Position Hesiods, der einen „guten“ Streit – kreativen Wettstreit – und einen „schlechten“, der zu Krieg, Gesetzlosigkeit und Verbrechen führe, unterschieden habe. Dieser Auffassung habe Heraklit sein „kosmisches“ Modell entgegengesetzt, in dem Konflikt nicht manchmal gut und manchmal schlecht, sondern die alles hervorbringende und umfassende Ursächlichkeit sei.<ref>Charles H. Kahn (Hrsg.): ''The art and thought of Heraclitus'', Cambridge 1979, S. 205–210.</ref> [[Wolfgang Schadewaldt]] wies darauf hin, dass die Charakterisierung des Krieges als Vater und König „oft zitiert, aber nicht immer verstanden“ sei. Der Krieg oder Streit herrsche als die Instanz, die „Abscheidungen trifft, Unterschiede setzt“. Dies sei die „große Leistung“ des Streits. Durch diese „unterschiedsetzende Kraft“ werde der Streit für Heraklit zu einem so bedeutenden Seinsprinzip. Man müsse ihn als metaphysisches Prinzip verstehen.<ref>Wolfgang Schadewaldt: ''Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen'', 2. Auflage, Frankfurt 1979, S. 389 f.</ref> Nach der Ansicht von Geoffrey S. Kirk ist Streit oder Krieg Heraklits bevorzugte Metapher für die Vorherrschaft der Veränderung in der Welt. Mit dem allen Ereignissen zugrundeliegenden „Krieg“ sei die Aktion und Reaktion zwischen entgegengesetzten Substanzen gemeint. Wenn dieser Streit jemals durch den Sieg einer Seite beendet würde, wäre dies nach Heraklits Überzeugung gleichbedeutend mit der Zerstörung der Welt.<ref>Geoffrey S. Kirk: ''Heraklit von Ephesus.'' In: Geoffrey S. Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield (Hrsg.): ''Die vorsokratischen Philosophen'', Stuttgart 2001, S. 198–233, hier: 211–213.</ref>
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| Für eine nicht metaphysische, sondern ethische Interpretation plädierten hingegen [[Dieter Bremer]] und Roman Dilcher im Heraklit-Kapitel der Neubearbeitung von [[Friedrich Ueberweg]]s ''[[Grundriss der Geschichte der Philosophie]]''. Sie befanden, der Krieg komme in dem berühmten Fragment nicht als kosmisches Prinzip zur Sprache, sondern als „Hervorbringung von Unterscheidungen hinsichtlich dessen, was im Krieg auf dem Spiel steht – nämlich das Leben“. Heraklits Hinweis darauf, dass der Krieg die einen zu Freien, die anderen zu Sklaven macht, sei nicht nur im buchstäblichen Sinn zu verstehen. Vielmehr gehe es darum, dass der, der den Tod scheut und an seinem Leben festhält, eben dadurch der Unterlegene sei und verknechtet werde. Die „Freien“ hingegen seien für Heraklit diejenigen, „die ihr Leben aufs Spiel gesetzt und darin ihre eigene Sterblichkeit bewusst erfahren haben“. In der Möglichkeit, den Tod freiwillig auf sich zu nehmen, konkretisiere sich „auf existenzielle Weise die Einsicht in die Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichen“.<ref>Dieter Bremer, Roman Dilcher: ''Heraklit''. In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): ''Frühgriechische Philosophie'' (= ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike.'' Band 1), Halbband 2, Basel 2013, S. 601–656, hier: 625 f.</ref>
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| ==== Astronomie ====
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| Der Mondkrater Heraclitus ist nach dem Philosophen benannt.
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| == Ausgaben und Übersetzungen ==
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| * Jean Bollack, Heinz Wismann: ''Héraclite ou la séparation.'' Editions de minuit, Paris 1972 (griechischer Text mit französischer Übersetzung und Kommentar).
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| * Marcel Conche: ''Héraclite: Fragments.'' 3. Auflage. Presses Universitaires de France, Paris 1991 (griechischer Text mit französischer Übersetzung und Kommentar).
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| * Carlo Diano, Giuseppe Serra: ''Eraclito: I frammenti e le testimonianze.'' Mondadori, Mailand 1980.
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| * Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): ''Die Fragmente der Vorsokratiker.'' Band 1. Hildesheim 2004 (unveränderte Neuauflage der 6. Auflage von 1951), ISBN 3-615-12201-1 (griechischer Originaltext teilweise mit deutscher Übersetzung)
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| * Francesco Fronterotta: ''Eraclito: Frammenti.'' Rizzoli, Mailand 2013 ([https://www.academia.edu/29260935/Eraclito_Ebook.pdf online]).
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| * Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): ''Die Vorsokratiker.'' Band 1, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7608-1735-4, S. 284–369 (Quellen und Fragmente mit deutscher Übersetzung, Erläuterungen sowie Einführung zu Leben und Werk).
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| * Charles H. Kahn (Hrsg.): ''The Art and Thought of Heraclitus. An Edition of the Fragments with Translation and Commentary.'' Cambridge University Press, Cambridge 1981, ISBN 0-521-28645-X ([https://www.pdf-archive.com/2016/02/26/the-art-and-thought-of-heraclitus/the-art-and-thought-of-heraclitus.pdf PDF]).
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| * Jaap Mansfeld (Hrsg.): ''Die Vorsokratiker.'' Band 1, Reclam, Stuttgart 1987, ISBN 3-15-007965-9, S. 231–283 (griechischer Originaltext mit deutscher Übersetzung).
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| * Serge Mouraviev (Hrsg.): ''Heraclitea. Édition critique complète des témoignages sur la vie et l'œuvre d’Héraclite d’Éphèse et des vestiges de son livre et de sa pensée.'' Academia, Sankt Augustin 1999 ff. (20 Bände geplant, bisher 10 Bände erschienen).
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| * Jean-François Pradeau: ''Héraclite: Fragments.'' Flammarion, Paris 2002.
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| * Bruno Snell (Hrsg.): ''Heraklit: Fragmente''. 14. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-538-03506-5 (griechischer Originaltext mit deutscher Übersetzung).
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| * Thomas M. Robinson: ''Heraclitus: Fragments.'' University of Toronto Press, Toronto 1987.
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| == Literatur ==
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| '''Übersichts- und Gesamtdarstellungen'''
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| * Dieter Bremer, Roman Dilcher: ''Heraklit''. In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): ''Frühgriechische Philosophie'' (= ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 1), Halbband 2, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 601–656
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| * Serge Mouraviev: ''Héraclite d'Éphèse''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Bd. 3, CNRS Éditions, Paris 2000, ISBN 2-271-05748-5, S. 573–617
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| '''Untersuchungen'''
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| * Karl-Martin Dietz: ''Metamorphosen des Geistes'', Band 3: ''Heraklit von Ephesus und die Entwicklung der Individualität''. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004, ISBN 3-7725-1273-9.
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| * Hermann Fränkel: ''Wege und Formen frühgriechischen Denkens''. 3., durchgesehene Auflage, Beck, München 1968, S. 237–283.
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| * Hans-Georg Gadamer: ''Der Anfang des Wissens''. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-009756-8, S. 17–100.
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| * Thomas Hammer: ''Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus'' (= ''Epistemata. Reihe Philosophie'', Band 90). Königshausen & Neumann, Würzburg 1991, ISBN 3-88479-591-0.
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| * Klaus Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung''. Berlin/New York 1980, ISBN 3-11-007962-3.
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| * Ewald Kurtz: ''Interpretationen zu den Logos-Fragmenten Heraklits'' (= ''Spudasmata'', Band 17). Olms, Hildesheim 1971, ISBN 3-487-04047-6
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| * Wolfgang H. Pleger: ''Der Logos der Dinge. Eine Studie zu Heraklit'' (= ''Europäische Hochschulschriften'', Reihe 20, Band 226). Lang, Frankfurt a. M. 1987, ISBN 3-8204-1007-4.
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| * Jürgen-Eckardt Pleines: ''Heraklit. Anfängliches Philosophieren'' (= ''Studienbücher Antike'', Band 9). Hildesheim 2002, ISBN 3-487-11476-3
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| * Martin Thurner: ''Der Ursprung des Denkens bei Heraklit'' (= ''Ursprünge des Philosophierens'', Band 1). Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 3-17-016883-5
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| '''Bibliographien'''
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| * Francesco De Martino, Livio Rossetti, Pierpaolo Rosati: ''Eraclito. Bibliografia 1970–1984 e complementi 1621–1969''. Neapel 1986.
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| * Evangelos N. Roussos: ''Heraklit-Bibliographie''. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1971, ISBN 3-534-05585-3.
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| == Weblinks ==
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| {{Commonscat|Heraclitus|Heraklit}}
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| '''Fragmente'''
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| * Hermann Diels: ''Herakleitos von Ephesos'', griechisch und deutsch, Berlin 1901
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| * Egon Gottwein: [http://www.gottwein.de/Grie/vorsokr/VSHeraklit00.php Textauswahl]
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| * William Harris: [https://archive.org/download/heraclitus-complete-fragments-translation-and-commentary-and-the-greek-text-william-harris/Heraclitus-Complete-Fragments%20Translation%20and%20Commentary%20and%20The%20greek%20Text%20William%20Harris.pdf ''Heraclitus: The Complete Fragments''] (PDF; 154 kB), Internet Archive, griechisch und englisch.
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| * Randy Hoyt: [http://www.heraclitusfragments.com/ ''The Fragments of Heraclitus''], griechisch nach Diels-Kranz und englisch nach John Burnet 1912 mit kleinen Modifikationen, 2002
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| * Samuel Béreau: [http://philoctetes.free.fr/heraclitus.htm ''139 Fragments''], griechisch nach Diels und englisch nach John Burnet 1912
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| * [http://hiphi.ubbcluj.ro/fam/texte/greci/heraclit.pdf Fragmente] (griechische Originaltexte mit englischen und französischen Übersetzungen; PDF-Datei, 213 kB)
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| '''Quelle'''
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| * Diogenes Laertios, [http://classicpersuasion.org/pw/diogenes/dlheraclitus.htm ''Leben und Meinungen berühmter Philosophen'' IX 1–17] (englisch)
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| '''Literatur'''
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| * Günter Wohlfart: [http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=22&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&no_cache=1 ''Heraklit von Ephesos'']. In: UTB-Online-Wörterbuch Philosophie
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| '''Audio'''
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| * [https://www.youtube.com/watch?v=oKVCFrt-TY4 Audio zu Leben und Werk von Heraklit] YouTube
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| == Einzelanchweise ==
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| <references />
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| {{Exzellent|23. Februar 2008|42878071}}
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